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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Hämoglobin im Mund – vorbei. Jericho wollte nicht wieder kämpfen. Er legte keinen Wert mehr auf das knöcherne Grinsen jenes Gesellen von drüben, der bislang noch an jeder Schießerei teilgenommen, jedes Haus mit ihm gestürmt, in jede Schlangengrube mit ihm vorgedrungen war, ohne auf jemandes Seite zu stehen, der immer nur erntete. Ein letztes Mal, im Paradies der kleinen Kaiser, würde er sich mit dem Totenköpfigen einlassen, in der Hoffnung, ihn seiner Unzuverlässigkeit zum Trotz als Verbündeten zu gewinnen.
    Er betrat den Fabrikhof, überquerte ihn mit entschlossenen Schritten, erstieg die Rampe. Wie zu erwarten, wies das Schild den An- und Verkauf als geschlossen aus. Jericho schellte, lange und insistierend, gespannt, ob Ma sich aus der Toilette bequemen oder tot stellen würde. Tatsächlich teilte sich der Perlenvorhang nach dem dritten Schellen. Ma umrundete das Thekenmonstrum mit invalider Eleganz, schloss auf und heftete seinen dioptrinverzerrten Blick auf den Störenfried.
    »Sicher mein Fehler«, sagte er verkniffen. »Ich dachte, ich hätte sechs Uhr gesagt, aber wahrscheinlich –«
    »Haben Sie auch«, versicherte Jericho. »Tut mir leid, aber ich brauche die Ohrringe nun doch früher als ausgemacht. Bitte verzeihen Sie meine Hartnäckigkeit. Frauen.« Er breitete in einer Geste der Machtlosigkeit die Arme aus. »Sie verstehen.«
    Ma lächelte gezwungen, trat beiseite und ließ ihn eintreten.
    »Ich zeige Ihnen, was ich ausgesucht habe«, sagte er. »Entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten, aber –«
    »Ich habe mich zu entschuldigen.«
    »Nein, keineswegs. Mein Verschulden. Ich war auf der Toilette. Nun, schauen wir mal.«
    Toilette? Verblüfft registrierte Jericho, dass Ma ihm soeben das Stichwort geliefert hatte.
    »Es ist mir sehr unangenehm«, stammelte er. »Aber –«
    Ma starrte ihn an.
    »Könnte ich sie benutzen?«
    »Benutzen?«
    »Ihre Toilette«, fügte Jericho hinzu.
    Die Hände des Mannes entwickelten krabbelndes Eigenleben, schoben Ohrringe über den fadenscheinigen Samt der Unterlage. Ein Hüsteln kroch seine Kehle empor, ein weiteres. Kleine, schleimige, aufgescheuchte Tiere. Plötzlich drängte sich Jericho die Horrorvision eines humanoid geformten Sackes auf, angefüllt mit wimmelndem, chitinösem, schillerndem Gezücht, das Ma Lipings Hülle bewegte und menschenähnliche Gestik vortäuschte.
    Animal Ma.
    »Sicher. Kommen Sie.«
    Er hielt den Perlenvorhang auf, und Jericho betrat das Hinterzimmer. Die zweite Kamera heftete ihr dunkles Auge auf ihn.
    »Ich muss allerdings –« Ma stockte. »Ich bin nicht darauf eingerichtet, wissen Sie. Wenn Sie eine Sekunde warten, ich will nur schnell für ein frisches Handtuch sorgen.« Er dirigierte Jericho zum Schreibtisch, öffnete die Toilettentür eben so weit, dass er ins Innere schlüpfen konnte. »Einen Augenblick, bitte.« Schloss sie hinter sich.
    Jericho packte die Klinke und riss sie auf.
    Wie im Blitzlicht erfasste er die Szenerie. Eine Toilette, tatsächlich, hoch und eng. Schemen toter Insekten im Milchglas der Deckenbeleuchtung. Die Kacheln an manchen Stellen gesprungen, schimmelnde Fugen, der Spiegel fleckig und angelaufen, rostgelber Rückstand im Waschbecken, der Ort der Verrichtung wenig mehr als ein Loch im Boden. An der Rückwand ein Hängeschränkchen, sofern von einer Wand die Rede sein konnte, weil sie halb offen stand, eine getarnte Tür, die Ma in der Eile, Jericho zu bedienen, zu schließen versäumt hatte.
    Und in alldem Animal Ma Liping, der in diesem Moment nur noch aus seinen künstlich vergrößerten Augen zu bestehen schien und seiner Schuhsohle, die heransauste und schmerzhaft gegen Jerichos Brustbein prallte.
    Etwas knackste. Alle Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Der Tritt beförderte ihn zu Boden. Er sah den Chinesen mit gefletschten Zähnen im Türrahmen auftauchen, riss die Glock aus dem Halfter und legte an. Der andere zuckte zurück, machte kehrt. Jericho sprang auf die Beine, jedoch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass sein Gegner in die Dunkelheit jenseits des Durchgangs entwischte. Die Rückwand schwang hin und her. Ohne innezuhalten stürmte er hindurch, stoppte am Absatz einer Treppe, zögerte. Ein eigenartiger Geruch schlug ihm entgegen, eine Mischung aus Moder und Süße. In der Tiefe verhallten Mas Schritte, dann war alles still.
    Er sollte da nicht runtergehen. Was immer sich in diesem Keller verbarg, das Geheimnis der Toilette war gelöst. Ma saß in der Falle.

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