Limit
eigenen Willen.«
»Aber es ist schiefgegangen! Und wir haben keinen Kontakt mehr zu ihnen.«
»Sind sie – stecken geblieben?«
Lynn warf einen Blick auf das Schemagramm. Den plötzlichen Stopp der Kabine unterhalb der Empore hatten sie sehen können, doch dann war das Symbol verschwunden.
Niemand sagte etwas. Walo Ögi durchmaß den Raum, Heidrun und Tim starrten auf das Schemagramm, als könnten sie das Symbol kraft ihrer Blicke wieder herbeizaubern.
In Lynns Kopf herrschte der Ausnahmezustand.
Die Drogen hatten ihre narkotisierende Wirkung entfaltet, während das akute Drama sie über die Grenze des Erträglichen hinauspeitschte. Einerseits vernebelt, wie betrunken, gewahrte sie zugleich jedes Detail ihrer Umgebung in ungewohnter, beängstigender Schärfe. Es gab kein Hintereinander und Nacheinander, keine primäre und sekundäre Wahrnehmung mehr. Alles stürmte simultan auf sie ein, während immer weniger nach draußen gelangte. Realitätsebenen verschichteten sich, brachen auf, schoben sich splitternd wieder ineinander und schufen surreale Bühnenbilder zur Aufführung unverständlicher Stücke. In ihren Ohren rauschte das Blut. Zum hundertsten, tausendsten, abermillionsten Male fragte sie sich, wie sie sich bloß darauf hatte einlassen können, Raumstationen und Mondhotels zu bauen, anstatt sich Julian endlich zu widersetzen und ihm klarzumachen, dass sie nicht perfekt, kein Übermensch, nicht mal ein gesunder Mensch war, dass sie an der Aufgabe zerbrechen würde und man zur Erzeugung von Wahnsinn vielleicht eines Wahnsinnigen bedurfte, nicht aber zu dessen Kultivierung oder gar Kommerzialisierung. Denn das, genau das, war Sache der Gesunden, der geistig Klaren und Stabilen, die mit dem Wahnsinn kokettierten, unbekümmert mit ihm flirteten, nicht im Entferntesten verstanden, wie er sich anfühlte.
Wie lange würde sie noch durchhalten?
Ihr Kopf dröhnte. Sie schloss die Lider, presste die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Sie musste sich aufrecht halten. Durfte nicht zulassen, dass der Damm brach, der die schwarze Flut noch zurückhielt. Sie war die Einzige, die das Hotel in- und auswendig kannte. Sie hatte es gebaut.
Alles hing nur an ihr.
Voller Angst öffnete sie die Augen.
Das Symbol war wieder da.
»Hilfe! Hilfe! Hört uns denn keiner?«
Borelius hämmerte zornig auf den Sprechknopf, rief und rief, während Sushma sich gegen die verschlossenen Innentüren warf und versuchte, sie mit bloßen Händen auseinanderzuzwingen. Nair zog sie an den Schultern zurück und drückte sie an sich.
»Ich will hier raus«, wimmerte sie. »Bitte.«
Nur einen Meter war der Fahrstuhl abgesackt, dafür hatte sich alles Blut aus fünf Gesichtern in den Füßen versammelt. Wachsweiß schauten sie einander an, wie eine Gruppe Schlossgespenster, denen plötzlich klar wurde, dass sie schon lange tot waren.
»Okay.« Borelius ließ von der Sprechanlage ab, hob die Hände und versuchte, sachlich zu klingen, was ihr bemerkenswert gut gelang. »Das Wichtigste ist jetzt, dass wir die Nerven behalten. Auch du, Sushma. Sushma? In Ordnung?«
Sie nickte mit bebender Unterlippe, tränennass.
»Gut. Wir wissen nicht, was da los ist, wir erreichen niemanden, also müssen wir nachsehen.«
»So schlimm kann es doch eigentlich nicht werden«, sagte Hsu. »Ich meine, bei einem Sechstel G –«
»Zwölf Meter auf dem Mond sind wie zwei auf der Erde, das weißt du doch«, versetzte Kramp. »Und wir sind schätzungsweise 120 Meter hoch.«
»Schscht! Hört mal.«
An- und abschwellendes Brausen drang an ihr Ohr. Ein gequältes Jaulen mischte sich mit hinein, wie von hochgradig strapaziertem Material. Borelius hob den Blick zur Decke. Für alle ersichtlich, war dort ein Schott in der Mitte. Jetzt sah sie auch das dazugehörige Bedienelement neben den Anzeigen. Einen Moment zögerte sie, dann betätigte sie den Mechanismus. Sekundenlang tat sich nichts, dass sie schon zu befürchten begann, auch diese Funktion habe Schaden genommen. Wie sollten sie nach draußen gelangen, wenn das Schott streikte? Noch während sie über Alternativen nachsann, geriet es in Bewegung und stellte sich langsam auf. Flackerndes Orangerot drang zu ihnen herein, das Brausen verstärkte sich. Sie ging in die Hocke, federte ab, bekam den Rand der Luke zu fassen, zog sich mit kräftigem Schwung hoch und kletterte aufs Dach.
»Meine Güte«, flüsterte sie.
Rechtsseitig war die Trennwand auf großer Fläche weggerissen worden, sodass sie bis hinauf in
Weitere Kostenlose Bücher