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Limit

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Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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lapislazuliblauem Grund die Mond- und Sonnenphasen und Tierkreiszeichen an und entsandte bronzene Wächter, um Erde und Universum mit dröhnenden Glockenschlägen in Stunden zu segmentieren, während kaum merkliche Brisen über den anderthalb Quadratkilometer großen Spiegel strichen und die Architektur kräuselten, ohne sie aufzulösen, als vergnügten sich die Geister Dalis und Hundertwassers damit.
    Palstein kratzte mit einem Löffelchen den klebrigen, köstlichen Zuckerrest vom Grund der Espressotasse. Seine Frau hatte nicht mitkommen wollen, bereitete ihre Abreise zu einem indischen Ashram vor, den sie in immer kürzeren Zyklen aufsuchte, seit sie auf einer Vernissage einen Guru kennengelernt hatte, der Seele und Bankkonto gleichermaßen Fundamentales zu entlocken verstand. Tatsächlich war es ihm lieber so. Allein musste er nicht reden, kein Interesse heucheln, nichts wahrnehmen, was er lieber ausblendete. Er konnte ganz in der wohltuenden Stille des gespiegelten Venedigs leben, das keinen Wandel kannte, so wie Alice sich hinter die Spiegel begeben hatte, und die kopfstehende Gegenwelt durchstreifen.
    Lärm. Geschrei. Lachen.
    Im nächsten Moment verging die Illusion, als eine Gruppe Jugendlicher mitten durch die Wasserfläche patschte und alles in eine wilde Kleckserei verwandelte.
    Schwachköpfe, die ein Meisterwerk zerstörten!
    Die Illusion eines Meisterwerks.
    Palstein sah ihnen nach, zu müde, um noch Zorn zu entwickeln. War es nicht immer so? Man baute und baute an etwas, entwickelte es bis zur Perfektion, und dann machten ein paar Dahergelaufene alles zunichte. Er entrichtete das exorbitant überhöhte Salär für Espresso und Kammermusik, schlenderte unter den Arkaden der Piazzetta hindurch bis zum Bacino di San Marco, wo der Dogenpalast an tieferes Wasser grenzte, und folgte den Stegen zu den Biennale-Gärten. Dort, an einem kleinen Kanal im beschaulichen Viertel Castello, nahm er ein frühes Abendessen in der Hostaria Da Franz ein, unter Kundigen gerühmt als Venedigs bestes Fischrestaurant, unterhielt sich ein wenig mit Gianfranco, dem alten Patron, dessen Leben einer Humboldt'schen Erkundung der Welt auf geraden wie ungeraden Pfaden glich und den nichts aus der Ruhe zu bringen vermochte außer vielleicht leere Gläser, umarmte zum Abschied ihn und Maurizio, seinen Sohn, und bestieg ein Wassertaxi, das ihn zum Canal Grande und zum Palazzo Loredan brachte. EMCO hatte den Prachtbau aus der Frührenaissance in besseren Zeiten erworben und über dem Wahnsinn seines systematischen Niedergangs vergessen, ihn abzustoßen. Nach wie vor stand das Gebäude den Führungskräften offen, war allerdings lange schon nicht mehr genutzt worden. Doch weil Palstein Venedig liebte und fand, nichts sei seiner Lage angemessener als das Sinnbild aller Vergänglichkeit, war er für eine Woche hierhergeflogen.
    Inzwischen stand die Sonne tief über dem Canale. Das Scheppern und Tuckern der Vaporetti und Lastkähne mischte sich mit dem Schnurren eleganter Motorboote, Akkordeonklängen und den Tenorstimmen der Gondolieri zu einer Geräuschkulisse, wie sie kein anderer Ort der Welt zu bieten hatte. Nachdem das Erdgeschoss unter Wasser stand, betrat er den Palazzo durch einen höher gelegenen Eingang und gelangte über das hölzerne Treppenhaus ins Piano nobile des ersten Stockwerks. Wo das späte Sonnenlicht durch die Scheiben drang, gruppierten sich Sofas und Sessel um einen flachen Glastisch.
    In einem der Sessel saß Julian Orley.
    Palstein stutzte. Dann beschleunigte er seinen Schritt, durcheilte die kathedralenartige Weite des Saals und breitete die Arme aus.
    »Julian«, rief er. »Was für eine Überraschung!«
    »Gerald.« Orley erhob sich. »Mit mir hättest du nicht gerechnet, was?«
    »Nein, wirklich nicht.« Palstein drückte den Engländer an seine Brust, der seine Umarmung erwiderte, ein wenig fest, wie es ihm schien.
    »Seit wann bist du in Venedig?«
    »Vor einer Stunde eingetroffen. Dein Verwalter war so freundlich, mich einzulassen, nachdem er zu der Überzeugung gelangte, dass ich nicht die Muranoleuchter klauen will.«
    »Warum hast du nicht angerufen? Wir hätten essen gehen können. So musste ich mit dem besten Steinbutt meines Lebens im Alleingang fertig werden.« Palstein schritt zu einer kleinen Bar, entnahm ihr zwei Gläser und eine Flasche und drehte sich um. »Grappa? Prime Uve, weich und in großen Mengen verträglich.«
    »Her damit.« Julian setzte sich wieder. »Wir müssen anstoßen, alter

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