Limonow (German Edition)
gekostet hatten, von bosnischen Milizionären abgefeuert worden waren – dumm gelaufen. Diese Ehrlichkeit beeindruckt mich umso mehr, als sie nicht auf ein »alle sind gleich« hinausläuft, wie die feinsinnigen Geister zu behaupten versucht sind. Denn irgendwann muss man sein Lager wählen oder jedenfalls den Ort, von dem aus man die Geschehnisse beobachtet. Nachdem während der Belagerung von Sarajewo die erste Zeit vorbei war, da man noch mit einem kräftigen Tritt aufs Gaspedal und zum Preis eines Riesenschreckens im Zickzackkurs von einer Front zur anderen wechseln konnte, galt es, die Wahl zu treffen und das Geschehen entweder von der belagerten Stadt oder von den Posten der Belagerer aus zu verfolgen. Selbst für Männer wie die beiden Jeans, die so zurückhaltend sind, dass sie die Herde der guten Seelen für sich einzunehmen vermögen, drängte sich diese Wahl ganz von allein auf: Wenn es einen Schwächeren und einen Stärkeren gibt, ist es vielleicht eine Ehrensache festzuhalten, dass der Schwache nicht ganz weiß und der Starke nicht ganz schwarz ist, aber man positioniert sich auf der Seite des Schwachen. Man geht dorthin, wo die Granaten einschlagen, nicht dorthin, wo man sie abfeuert. Wenn sich die Situation umkehrt, gibt es sicher einen Augenblick, in dem man sich wie Jean Rolin dabei ertappt, »eine unbestreitbare Befriedigung bei der Vorstellung« zu empfinden, »dass es jetzt einmal die Serben sein würden, die das alles in die Fresse bekämen«. Aber dieser Augenblick währt nicht lange, die Zeit steht nicht still, und wenn man zu seiner Sorte von Mensch gehört, landet man dabei, die Parteilichkeit des Internationalen Kriegsgerichts in Den Haag zu verurteilen, das unablässig serbische Kriegsverbrecher verfolgt, während es ihresgleichen auf kroatischer oder bosnischer Seite der absehbaren Milde ihrer eigenen Tribunale überlässt. Oder man veröffentlicht Reportagen über die grauenhafte Situation der besiegten Serben in ihren Enklaven im Kosovo heute. Es ist eine finstere, aber selten widerlegte Regel, dass sich die Rollen von Henkern und Opfern abwechseln. Man muss sehr anpassungsfähig und darf nicht zimperlich sein, um sich immer auf der Seite der letzteren zu halten.
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Pawel Pawlikowski ist ein englischer Filmemacher mit polnischen Wurzeln, mit dem ich viele Interessen teile und dessen Weg ich mehrere Male gekreuzt habe, während ich an diesem Buch schrieb. Er hat einen ergreifenden Dokumentarfilm über Wenitschka Jerofejew gedreht, den Autor von Die Reise nach Petuschki und Held des Undergrounds zu Breschnew-Zeiten, der in den letzten Monaten seines Lebens als bettelarmer, vom Krebs zerfressener Alkoholiker in einer Einsamkeit versunken endete, die Limonow wahrscheinlich ohne Nachsicht verurteilt hätte, aber die mir die Tränen in die Augen trieb. 1992 war Pawel sehr irritiert über die Rhetorik, die in London ebenso flammend war wie in Paris und die die Serben als Erben der Nazis hinstellte. Wie meine Freunde schlugen auch seine Bekannten unter den Journalisten, Schriftstellern und Filmemachern ihr Quartier im belagerten Sarajewo auf, und er bekam Lust nachzusehen, was man auf der anderen Seite im Sinn hatte.
Schließlich filmte er Musiker, die vor Soldatenbiwaks sangen und dabei mit der Kniegeige fast so ehrwürdige Gesänge wie unser Rolandslied begleiteten, in denen vom Scheitern auf Erden und vom Sieg im Himmel die Rede ist und davon, dass man die Häuser der Türken anzünden möge. Er verfolgte den Widerhall dieser Lieder auf ländlichen Hochzeiten und in Schülerkreisen – bei Schülern allerdings, die mit Kalaschnikows bewaffnet waren. Die darin enthaltenen Namen der tapferen Recken, die vor sechs Jahrhunderten gelebt hatten, waren durch die der heutigen Recken ersetzt worden: Radovan (Karadžić) und Ratko (Mladić, der Militärchef der Serben). Pawel filmte einen Kriegsrat, in dem man Radovan und Ratko über Landkarten gebeugt sieht, die sie mit einem Marker überschreiben, indem sie Grenzen und mit ihnen ganze Bevölkerungen versetzen und sich zu einigen versuchen, welche Verluste man in Kauf nehmen und welche Gebiete man keinesfalls preisgeben könne – dieselbe Übung, mit der sich schon Armeen von Diplomaten in Lissabon, Genf und Dayton abgeplagt hatten, nur dass man hier unter sich war – und das zu sehen ist wirklich faszinierend. Er filmte auch Pale, den Wintersportort, der 1980 anlässlich der Olympischen Spiele von Sarajewo gebaut worden war und damals der
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