Limonow (German Edition)
publiziert werden. Sein Tagebuch eines Versagers würde ein Kultbuch werden, die Bibel aller hasserfüllten loser dieses Planeten. Er spielte mit der Idee, zögerte die fatale Tat hinaus, wie man den Höhepunkt hinauszögert – dann begab sich Waldheim ins Haus, und nach einem Augenblick bitterster Enttäuschung sagte sich der Diener: »Na gut, umso besser. So weit ist es noch nicht mit mir.«
Das Übelste war, was der Diener über den kleinen Jungen schrieb, der an Leukämie erkrankt war. Es handelte sich um den Sohn eines charmanten Paars, das auch in der Nachbarschaft wohnte. Er war fünf Jahre alt, jeder im Viertel liebte ihn, und mit zugeschnürter Kehle verfolgten alle den Verlauf seiner Krankheit mit. Die Chemotherapie, die Hoffnung, den Rückfall. Steven war mit den Eltern so weit bekannt, dass er ihnen Besuche abstattete. Jedes Mal kam er verstört zurück. Natürlich dachte er an seine eigenen Kinder. Eines Tages sagte ihm der Vater, es sei aus: eine Frage von Tagen, wahrscheinlicher noch von Stunden. Steven ging hinunter, um Jenny die Nachricht zu überbringen, und sie brach in Schluchzen aus. Eduard, der sich wie immer in der Küche aufhielt, weinte nicht, aber auch er schien auf seine verhaltene, militärische Art bewegt zu sein. Alle drei blieben schweigend sitzen, und Steven bewahrte von diesem Moment eine seltsam strahlende Erinnerung. Die sozialen Schranken waren gefallen; sie waren einfach nur zwei Männer und eine Frau an einem Tisch, die gemeinsam den Tod eines kleinen Jungen erwarteten. Zwischen ihnen gab es bloß noch Kummer, Mitleid und etwas Zerbrechliches, was vielleicht Liebe war.
Und das schreibt Eduard darüber:
»Nun denn, der Kleine wird an seinem Krebs sterben, Scheiße, na und? Ja, er ist hübsch, ja, was für ein Jammer, aber ich bleibe dabei: na und? Umso besser sogar. Soll das Reiche-Leute-Balg doch sterben, ich werd’ mich drüber freuen. Warum soll ich Rührung und Mitleid heucheln, während mein eigenes, gewichtiges und einzigartiges Leben von diesen Mistkerlen, die sie alle zusammen sind, vernichtet wird? Stirb, kleiner todkranker Junge! Kein Kobalt und keine Dollars können etwas daran ändern. Der Krebs schert sich einen Dreck ums Geld. Biete ihm Milliarden, er wird trotzdem nicht weichen. Und das ist sehr gut so: Wenigstens etwas, vor dem alle Welt gleich ist.«
(»Was für ein mieser Typ!«, denkt Steven, und ich denke dasselbe, und zweifellos auch Du, Leser. Und doch glaube ich auch, wenn es irgendetwas gegeben hätte, womit man den Kleinen hätte retten können, vielleicht sogar etwas Schwieriges oder Gefährliches, wäre Eduard der erste gewesen, der sich dahintergeklemmt und mit ganzer Energie in den Kampf geworfen hätte.)
9
Eines Tages bittet Steven seinen Diener, das schönste Gästezimmer für dessen berühmten Landsmann, den Dichter Jewgeni Jewtuschenko herzurichten. Eduard hat nicht die geringste Achtung für diese eierlegende Wollmilchsau, diesen mit Datschas und Privilegien überhäuften Halbdissidenten, der auf allen Hochzeiten tanzt, aber natürlich sagt er keinen Ton. Jewtuschenko erscheint: groß, gutaussehend, selbstzufrieden, in einer lila Jeansjacke, einen Fotoapparat mit riesigem Zoom um den Hals und mit Kaufhaustüten voller Gadgets, die es zu Hause nicht gibt. Ein sibirischer Bauer auf Besuch in der Hauptstadt, so Brodsky, von dem ich diese Beschreibung entlehne – und die ich, da ich Jewtuschenko zwanzig Jahre später selbst begegnet bin, bestätigen kann. Steven, der begeistert ist, diesen so russischen Russen in seinem Haus zu beherbergen, organisiert einen Cocktail zu seinen Ehren. Eduard serviert in Livree. Es graut ihm schon vor dem erniedrigenden Moment, dem großen Mann vorgestellt zu werden, und natürlich kommt es unweigerlich dazu, doch zu seiner großen Überraschung erwidert Jewtuschenko: Limonow? Er habe von seinem Buch gehört. » Editschka , nicht wahr?« Man sagt, es sei großartig, er würde es gern lesen.
Die Gesellschaft geht aus, zunächst in die Metropolitan Opera, wo Nurejew tanzt, dann zu einem Nachtessen in den Russian Samovar in der 52sten Straße. Eduard für seinen Teil deckt ab, räumt alles auf und geht früh schlafen: Das ist das Beste, was man tun kann, wenn Steven in der Stadt ist. Um vier Uhr morgens klingelt das Haustelefon auf seinem Zimmer. Es ist Jewtuschenko, und er bittet ihn, in die Küche zu kommen. Steven und er sitzen bei einer Flasche Wodka zusammen, sie sind sehr betrunken, die Knoten ihrer
Weitere Kostenlose Bücher