Lincolns Träume
untersuchen.«
Ungeachtet der Tatsache, daß ich immer noch glaubte, Richard könne ihn geschickt haben, stellte ich fest, daß ich Dr. Stone zu mögen begann. Er sagte Dinge wie ›ich glaube‹ und ›meiner Meinung nach‹ und schien nicht der Ansicht zu sein, daß er automatisch die Antworten auf alle Fragen wußte, wenn es um Träume ging. Wenn Annie ihm ihren Traum erzählte, würde er zumindest nicht sagen, sie sei verrückt, und er würde ihr vielleicht helfen können. Sie hätte sowieso von ihm behandelt werden sollen. Wenn ich sie anrufen und ihr sagen würde, daß er von Kalifornien zurück war, dann könnte sie vielleicht den Arzt wechseln und Richards Fängen entkommen.
»Träume sind Ausdruck physiologischer Vorgänge«, sagte Dr. Stone. »Sie ›bedeuten‹ überhaupt nichts. Lincoln könnte das, was er geträumt hat, aus vielerlei Ursachen geträumt haben. Er könnte an diesem Tag auf einem Begräbnis gewesen sein oder einen Leichenwagen gesehen haben. Oder etwas könnte ihn an jemanden erinnert haben, der vor kurzem gestorben war.«
»Willie«, sagte Broun. »Lincolns Sohn. Er starb im Weißen Haus. Sein Sarg war auch im östlichen Zimmer.«
»Genau«, sagte Dr. Stone erfreut. »Er könnte von Willie geträumt haben. Die Person in dem Sarg könnte gleichzeitig Willie und Lincolns eigene Ängste vor einem Attentat verkörpert haben. Die Verschmelzung von zwei Personen kommt häufig in Träumen vor. Man nennt das Verdichtung.«
Ich dachte an Annie, und wie sie aus den beiden Generälen, A. P. Hill und D. H. Hill, einen gemacht hatte.
»Oder«, er lehnte sich im Sessel zurück, »es könnte an etwas gelegen haben, das er gegessen hat.«
»Also könnten Sie nach den Träumen eines Menschen nicht beurteilen, ob er emotional gestört ist?« fragte ich.
»Kaum«, sagte Dr. Stone. »Wenn es so wäre, dann wären wir alle reif für die Anstalt. Ich erinnere mich an einen Traum, in dem ich meine Patienten mit einer Viehpeitsche malträtiert habe.« Er lachte. »Nein, Träume allein bieten keinen ausreichenden Beleg für eine psychische Erkrankung. Warum?«
Mir wurde zu spät klar, daß wir besser nicht in dieses Fahrwasser gekommen wären. »Jemand hat Broun erzählt, Lincolns Träume deuteten darauf hin, daß er auf einen Nervenzusammenbruch zusteuerte.«
»Wirklich? Ein Laie, nehme ich an. Ein Psychiater würde niemals versuchen, eine Diagnose auf der Basis eines Traums zu stellen.«
Nun, ein Psychiater – einer seiner Psychiater, um genau zu sein – hatte eben dies getan, und ich hätte ihm gerne erzählt, daß Dr. Richard Madison, dieser gute Mann, der über Schlaflosigkeit forschte, noch mehr als das getan hatte, aber ihm von Richard zu erzählen, würde bedeuten, ihm von Annie zu berichten, und dazu war ich noch nicht bereit, nicht ehe ich ein bißchen mehr über Dr. Stone wußte.
»Sie sagten, Träume könnten durch etwas ausgelöst werden, das man gegessen hat?« sagte ich, ehe Broun ihm mitteilen konnte, wer Lincoln als verrückt diagnostiziert hatte. »Ist das wirklich wahr? Kann man Alpträume bekommen, wenn man vor dem Schlafengehen mexikanisch gegessen hat?«
»Aber ja. Durch das Essen werden bestimmte Enzyme im Organismus des Träumers freigesetzt, und diese führen dazu, daß…«
Das Telefon klingelte. Ich drehte mich zum Anrufbeantworter um. Broun legte seinen Füller hin. Dr. Stone lehnte sich in seinem Sessel vor und beobachtete uns beide.
»Willst du drangehen?« fragte Broun.
»Nein«, sagte ich. Ich drückte den Aufnahmeknopf. »Es ist wahrscheinlich bloß die Bibliothekarin. Sie hat versprochen, mir ein paar Informationen über Lincolns Träume zu besorgen. Ich rufe sie später zurück.«
Das Telefon klingelte ein zweites Mal, und das Aufnahmelämpchen leuchtete auf. Ich konnte das Klicken hören, als der Recorder sein Sprüchlein aufzusagen begann, daß niemand hier sei und man doch nach dem Ertönen des Signals eine Nachricht hinterlassen möge. Und wer war der Anrufer? Annie, die vielleicht sagte: »Ich hatte wieder einen Traum«? Oder Richard, der mir mitteilte, ich sollte aufhören, mich in seine Behandlung einzumischen? Das Aufnahmelämpchen erlosch.
Ich wandte mich wieder Dr. Stone zu. »Was sagten Sie eben?«
»Verstopfung kann einen Einfluß auf das Träumen haben, weil die Verdauungsenzyme im Blut chemische Veränderungen im Gehirn auslösen.«
»Was ist mit Medikamenten?« sagte ich. »Medikamente bewirken ebenfalls chemische Veränderungen im Blut, nicht
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