Lincolns Träume
war gerade ein paar Tage wieder hier, als mich Mr. Broun bat, herüberzukommen und ihm Lincolns Träume zu erklären. Ich fühlte mich natürlich geschmeichelt, daß er sich an mich gewandt hatte, aber ich fürchte, ich werde ihm nicht weiterhelfen können. Ich weiß nicht, was Lincolns Träume bedeuten. Oder irgendwelche anderen Träume. Falls sie überhaupt etwas bedeuten.«
»Er hat einige sehr interessante Dinge geäußert«, sagte Broun. »Nimm Platz, mein Sohn. Ich möchte, daß du dir seine Ideen anhörst. Ich habe dich auf dem Rückweg von New York angerufen und eine Nachricht hinterlassen, daß Dr. Stone vorbeikommen würde, aber ich vermute, du hast sie nicht bekommen.« Er ging zu dem einzigen anderen Stuhl im Arbeitszimmer, einem wackeligen Holzstuhl, den er brauchte, um die obersten Regalfächer zu erreichen. Auf dem Sitz lag ein hoher Stapel Bücher und oben drauf sein Kater, der tief und fest schlief.
»Ich war in der Bibliothek, um etwas über Träume herauszufinden, habe aber nichts erreicht«, sagte ich und entspannte mich ein wenig, »deshalb weiß ich ebenfalls nicht, was Lincolns Träume bedeuten.« Oder warum Sie hier sind, dachte ich. Richards seltsames Benehmen am Abend des Empfangs hatte Brouns Neugier erregt. Ich fragte mich, ob er Dr. Stone eingeladen hatte, um herauszufinden, warum Richard so heftig auf seine Fragen nach Lincolns Träumen reagiert hatte, oder ob er einfach nur versuchte, ›diesen Traumgeschichten auf den Grund zu kommen‹.
»Erzählen Sie Jeff, was Sie mir über Freud gesagt haben«, sagte Broun ungeduldig.
Dr. Stone lehnte sich in die Tiefen des Ledersessels zurück, die Hände bequem auf die gepolsterten Armlehnen gelegt, und lächelte. »Wie ich Mr. Broun bereits gesagt habe, ist die Traumdeutung keine Wissenschaft, auch wenn Freud versuchte, seine Kollegen glauben zu machen, es sei eine. Er behauptete, der Träumer agiere in seinen Träumen symbolisch die Traumata und Emotionen aus, die zu erschreckend seien, als daß er sich im Wachzustand mit ihnen befassen könnte. Ein Freudianer würde sagen, daß Lincolns Traum eine symbolische Darstellung seiner geheimen Wünsche und Ängste war, daß nicht nur der Sarg, sondern auch die Treppe, die Wache, alles in dem Traum Symbole waren, hinter denen sich die eigentliche Bedeutung des Traums verbarg.«
Ich ging zu dem Stuhl hinüber, scheuchte den Kater fort und begann die Bücher neben dem Stuhl auf dem Boden zu stapeln. Der Kater ging zum Ledersessel, betrachtete abwägend Dr. Stones Schoß, und dann ging er zum Kamin, um dort zu schmollen.
»Und die wäre?« fragte ich.
»Ich bin Wissenschaftler, kein Psychiater. Ich glaube nicht daran, daß Träume ›wirklich‹ etwas bedeuten. Sie sind physische Vorgänge, und alles ›Wirkliche‹, das sie an sich haben, liegt im Physiologischen. Freud unternahm keinerlei Anstrengung, das Physiologische zu verstehen. Er hatte das Gefühl, der Schlüssel zum Verständnis der Träume läge in ihrem Gehalt, und entwickelte ein kompliziertes System von Symbolen, um die Traumbilder zu deuten. In Lincolns Traum beispielsweise stellt die Treppe den Abstieg ins Unbewußte dar, dem Lincoln sowohl mit Neugier wie mit Angst begegnet, was durch das Weinen symbolisiert wird, das er hört. Die Wache und das Tuch über dem Gesicht der Leiche sind beides Symbole für Lincolns Widerstand, das Geheimnis zu entschlüsseln, das sein Unbewußtes enthält.«
Ich dachte an Annie, wie sie im Schnee stand und sagte: ›Richard sagt, das unbeschriebene Papier am Ärmel des Soldaten sei ein Symbol für die Botschaft, die mir mein Unterbewußtsein zu übermitteln versucht, nur hätte ich zuviel Angst, um sie zu lesen.‹
»Was ist mit der Leiche?« fragte ich. »Und dem Sarg.«
»Oh, der Sarg ist natürlich der Mutterschoß. Der ganze Traum handelt von Lincolns Sehnsucht, in die Sicherheit der Gebärmutter zurückzukehren.« Er lächelte. »Den Freudianern zufolge.«
»Aber das ist nicht Ihre Interpretation«, sagte Broun.
»Nein«, sagte Dr. Stone. »Meiner Meinung nach stellt die Traumdeutung, so wie sie von den meisten freudianischen Psychiatern praktiziert wird, einige an meinem Institut eingeschlossen, nicht mehr als ein phantasievolles System von Vermutungen dar. Ich glaube, die ›wirkliche‹ Bedeutung eines Traumes ohne Bezug zum physischen Zustand des Träumers verstehen zu wollen, ist ebenso sinnlos, als wollte man herausfinden, was ein ›Fieber‹ bedeutet, ohne den Körper zu
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