Lincolns Träume
ganze Reihe von unerheblichen Nebenwirkungen und einige schwerwiegendere. Es war kontraindiziert bei Patienten mit Herzbeschwerden und solchen mit einer vorausgehenden Überempfindlichkeit. Von Träumen, in denen tote Unionssoldaten vorkamen, stand nichts darin. Genaugenommen hätte Annie, als Richard sie auf Elavil gesetzt hatte, überhaupt nicht träumen sollen. Die tricyclischen Antidepressiva erhöhten den Anteil des Deltaschlafs und verminderten die REM-Phasen, während deren am meisten geträumt wurde.
Ich fragte die Bibliothekarin, was sie über Träume da hatte. »Nicht viel«, sagte Kate. »Ein paar pseudowissenschaftliche Sachen und Freuds Traumdeutung. Nein, warten Sie, ich glaube, die ist ausgeliehen.« Sie drückte ein paar Tasten an ihrem Computer und wartete, bis die Buchinformation erschien. »Ah ja, das ist ausgeliehen bis zum neunten April. Möchten Sie, daß ich es für Sie vormerke?«
»Ich dachte eigentlich eher an aktuelle Forschungsergebnisse.«
Sie tippte noch ein paar Tasten an. »Wir haben ein paar Sachen unter den Einhundertern, aber nichts wirklich Aktuelles. Wenn Sie genau wissen, was Sie möchten, kann ich es über Fernleihe bestellen. Falls nicht, schlage ich die Kongreßbibliothek vor. Haben Sie es schon im Schlafinstitut versucht? Dort gibt es eine ausgezeichnete Handbibliothek.«
»Ich werde es einmal bei den Einhundertern versuchen«, sagte ich.
Kate hatte recht. Es gab nicht viel, und was da war, handelte von Do-it-yourself-Traumdeutung: »Von einem Haus zu träumen bedeutet, daß Sie sexuell gehemmt sind«, so in der Art. Katzen waren ein Symbol animalischer Instinkte, Gewehre standen für Sex, Leichen für – welche Überraschung! – Tod. Pferde mit abgeschossenen Vorderbeinen wurden nicht erwähnt.
Ich fragte Kate, ob sie für Broun eine Bibliographie zum Thema prodromale Träume zusammenstellen könne, und fuhr nach Hause.
Als ich die Haustür öffnete, klingelte das Telefon. Ich hatte den Anrufbeantworter auf ›Nachricht‹ gestellt, ehe ich gegangen war. Es hätte nicht häufiger als zweimal klingeln dürfen, bevor sich das Tonband einschaltete, aber ich zählte dreimaliges Klingeln, als ich mich mit dem Schlüssel am Schloß zu schaffen machte, und ein weiteres Klingeln, als ich die Treppe nach oben lief. Ich stürzte in das Arbeitszimmer.
Broun legte gerade den Hörer auf. »Wer war das?« fragte ich atemlos.
»Es war niemand«, sagte er nachsichtig. »Wer es auch war, er hat aufgelegt, ehe ich antworten konnte. Jeff, ich möchte, daß du…«
»Es hat viermal geläutet, und Sie standen direkt daneben. Warum haben Sie das verdammte Ding nicht auf ›Nachricht‹ stehenlassen, wenn Sie schon nicht drangehen?«
»Dr. Stone und ich wollten uns ein wenig über Träume unterhalten«, sagte er, immer noch nachsichtig, und deutete auf seinen Clubsessel. »Dr. Stone, ich glaube, Sie kennen meinen Rechercheur noch nicht, Jeff Johnston. Jeff, Dr. Stone ist der Leiter des Schlafinstituts.«
Der Mann, der die ganze Zeit über im Clubsessel gesessen hatte, stand auf und streckte mir seine Hand entgegen: »Wie geht es Ihnen?« fragte er. Mein erster Gedanke war, Richard habe ihn herübergeschickt, damit er mir sagte, daß ich Annie in Ruhe lassen sollte, aber er lächelte ein höfliches, sanft einschmeichelndes Lächeln von der Art, wie man es jemand vollkommen Fremdem gegenüber zeigt, und Broun lächelte ebenfalls. Mein Name war vor meinem Eintreten offenbar noch nicht gefallen.
»Ich glaube, ich kenne einen Ihrer Freunde«, fuhr er fort. »Richard Madison?«
Er war einmal mein Freund, dachte ich, aber das war, bevor er anfing, seine Patienten für verrückt zu erklären. Das war, bevor er anfing, seine Patientinnen zu vögeln.
»Wir waren Stubenkameraden auf dem College«, sagte ich.
»Er ist ein guter Mann«, sagte Dr. Stone und ließ seine Hand ein wenig sinken, als hätte ich sie geschüttelt. »Er hat über Schlaflosigkeit geforscht, glaube ich.«
Er hat einen seiner Patienten ausgenutzt, dachte ich, und das konnte er seinem Chef kaum erzählt haben, also war Richard doch nicht der Grund, warum Stone hier war.
»Wie gut kennen Sie Richard?« fragte ich.
»Während der letzten sechs Monate war ich in Kalifornien und habe an einem neurologischen Traumforschungsprojekt mitgearbeitet. Ich traf ihn, als ich zurückkam, aber ich hatte noch nicht die Gelegenheit, mit ihm über seine Arbeit zu diskutieren«, sagte er immer noch lächelnd und nahm wieder Platz. »Ich
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