Lincolns Träume
wiederkehrenden Träumen überhaupt nicht um denselben Traum handelt. Wir haben die Sonde willkürlich eingesetzt, wobei wir eine ausgewählte Region während jedes Testdurchlaufs wiederholt stimuliert haben. Nach jeder Sitzung erzählte der Patient, er habe den gleichen Traum gehabt wie zuvor, aber wenn wir ihn nach den Einzelheiten befragten, gab er einen völlig anderen Traum wieder, obwohl er bei seiner Überzeugung blieb, daß beide Träume identisch seien. Wieder die Trägheit der Träume. Lincoln dürfte natürlich viele Bilder des lebenden Willie in seinem Gedächtnis gespeichert haben, die abgerufen werden konnten.«
»Und was ist mit Lincolns Traum von seiner Ermordung?« fragte ich. »Der konnte doch wohl schlecht dadurch Zustandekommen, daß Lincoln den Schrott des Tages in einer Art von geistigem Karteikasten ablegte, oder? Alle Details passen zueinander – der Sarg im östlichen Zimmer, die Wache, das schwarze Tuch über dem Gesicht des Toten.«
»Weil sein Bewußtsein sie passend gemacht hat. Bedenken Sie, wir haben keine Ahnung, wie der Traum in Wirklichkeit aussieht.« Er wandte sich an Broun, lächelte ihn scheinheilig an, dann wandte er sich wieder mir zu. »Was wir haben, das ist Lincolns Bericht des Traums, und das ist etwas vollkommen anderes.«
»Sekundäre Bearbeitung«, sagte ich.
»Ja«, sagte er erfreut. »Sie haben wirklich eine Menge recherchiert, oder irre ich mich da? Lincolns tatsächlicher Traum könnte eine Abfolge beziehungsloser Bilder gewesen sein, eine Erinnerung an Willie in seinem Sarg, irgendein Stück Stoff, eine Serviette oder ein Taschentuch oder etwas in der Art. Es hätte nicht einmal schwarz zu sein brauchen, ja nicht einmal aus Stoff. Es könnte ein Papierschnitzel gewesen sein.«
Ein Stück Papier, eine Katze, eine Springfield. Das tut es nicht, Dr. Stone.
»… und indem der Traum das Unterbewußtsein erreichte und dann erzählt wurde, nahm er einen Zusammenhang und eine Bedeutung an, die er einfach nicht hatte.« Er legte beide Hände auf die Sessellehnen. »Ich fürchte, ich muß allmählich wieder ins Institut zurück.«
»Was wäre, wenn ich geträumt hätte, ich wäre oben im Weißen Haus und hörte jemand weinen, sähe aber niemanden?« fragte ich. »Und wenn ich hinunterginge, stünde ein Sarg im östlichen Zimmer?«
Broun griff nach seiner Tasse. Kaffee schwappte auf seine Notizen.
»Dann würde ich sagen, Sie hätten sich den ganzen Tag über mit Lincolns Träumen beschäftigt.«
»Hast du das geträumt?« sagte Broun, der die Tasse immer noch schräg hielt. Er verschüttete noch mehr Kaffee.
»Nein«, sagte ich. »Dann glauben Sie also, Lincolns Traum bedeute gar nichts, obwohl zwei Wochen später alles genau so geschah? Sie glauben, das alles habe nur an dem gelegen, was er an diesem Tag getan und was er zu Mittag gegessen hatte?«
»Ich fürchte, ja.« Dr. Stone stand auf und stellte seine Tasse aufs Tablett. »Ich weiß, daß Sie wahrscheinlich etwas anderes von mir hören wollten, zumal Sie einen Roman schreiben wollen. Eines der größten Probleme, auf die ich bei meiner Arbeit stoße, ist, daß die Menschen glauben wollen, ihre Träume bedeuteten etwas, obwohl all meine Untersuchungen auf das genaue Gegenteil hinzudeuten scheinen.«
Sie haben sie nicht im Schnee stehen sehen, dachte ich. Sie haben ihren Gesichtsausdruck nicht gesehen. Ich weiß nicht, was ihr diese Träume verursacht, aber es sind keine Zufallsimpulse, und es ist auch keine Verstopfung. Annies Träume bedeuten etwas. Sie träumt sie aus einem bestimmten Grund, und ich werde rausfinden, welcher das ist.
»Sie waren mir eine große Hilfe, Dr. Stone«, sagte Broun. »Ich weiß es zu schätzen, daß Sie uns so viel Zeit gewidmet haben, denn ich weiß, daß Sie sehr beschäftigt sind.«
Er begleitete Dr. Stone nach unten. Ich wartete, bis sie fast den Fuß der Treppe erreicht hatten, dann ging ich zum Anrufbeantworter hinüber und drückte den Wiedergabeknopf. Es war immer noch keine Nachricht da.
Ich versuchte Annie anzurufen. Sie hob nicht ab. Brouns Kater sprang auf den Schreibtisch, steckte seinen Kopf in Brouns Thermostasse und begann vorsichtig am Kaffee zu lecken. Ich legte den Hörer weg und hob ihn am Nackenfell hoch, um ihn herunterzuwerfen.
»Mir ist aufgefallen, daß du nicht besonders viel von Dr. Stones Theorien hältst«, sagte Broun von der Tür aus.
»Nein«, sagte ich und setzte den Kater auf den Boden. »Und Sie?«
»Ich meine, er hatte einige
Weitere Kostenlose Bücher