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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Leib.
    Nach jeweils etwa einer Stunde ging ich zum Münztelefon hinaus und rief den Anrufbeantworter an, aber er hatte keine Nachrichten gespeichert. Um zwei Uhr war mir das Kleingeld ausgegangen, und ich mußte Kate bitten, mir einen Dollar in Vierteldollarstücke zu wechseln. »Ich habe Ihre Bibliographie in ein paar Minuten fertig«, sagte sie.
    Ich ging hinaus und rief den Anrufbeantworter an. Brouns Agentin hatte angerufen und wollte wissen, warum, zum Teufel, Broun noch immer Änderungen vornahm. Sie hatte eben mit McLaws und Herndon gesprochen, und diese mußten neu umbrechen. Sie sprachen davon, Broun die Extrakosten zu berechnen.
    Ich rief Annie an.
    »Ich bin froh, daß du anrufst«, sagte Richard. »Ich wollte mich für meinen Ausbruch gestern entschuldigen.«
    »Ich möchte mit Annie sprechen.«
    »Sie schläft gerade«, sagte er, »und ich möchte sie nicht aufwecken. Ich weiß, ich war vorgestern etwas von der Rolle. Ich habe mir solche Sorgen wegen ihres Zustands gemacht. Sie war besessen von der Idee, sie könnte ihren Traum faktisch verifizieren.«
    Er hörte sich vollkommen anders als der Mann, der mich gewarnt hatte, ich sollte Annie in Ruhe lassen. Seine Stimme war ruhig und geschäftsmäßig. »Das ist ein geläufiges Problem, aber ein gefährliches. Der Patient versucht, sich von bedrohlichen Traumbildern dadurch zu distanzieren, daß er zu glauben beginnt, sie besäßen eine eigene, objektive Realität.«
    Jetzt erkannte ich die Stimme. Er hatte während des ganzen Studiums daran gearbeitet. Die Stimme war einer der wichtigsten Werkzeuge eines Psychiaters, hatte er mir gesagt, als er sich mit Psychoanalyse beschäftigte. Die richtige Stimme konnte dazu benutzt werden, das Vertrauen des Patienten zu erlangen, sein Selbstbewußtsein zu steigern und den Patienten davon zu überzeugen, daß dem Psychiater seine ureigensten Interessen am Herzen lagen. Ich hatte ihm gesagt, es wäre mir egal, was man damit erreichen konnte, er sollte sie bloß nicht mir gegenüber gebrauchen.
    Jetzt gebrauchte er sie.
    »Indem sie sich einredet, das Haus in ihrem Traum sei das in Arlington«, sagte er, »versucht sie sich vor dem latenten Trauminhalt zu schützen. Aus dem halbbegrabenen Toten wird ein Unionssoldat statt das Bild ihres persönlichen Traumas, die Katze wird zur wirklichen Katze anstatt zum Symbol ihres Wunsches, die verdrängte Erinnerung, die ihre Träume verursacht, wieder bewußt zu machen.«
    »Die Katze ist eine wirkliche Katze, das heißt ein Kater. Er heißt Tom Tita. Als Lee von Arlington wegzog, ist er zurückgeblieben.«
    »Du verwechselst manifesten Inhalt mit latentem Inhalt«, sagte er voller Anteilnahme. »Wir träumen alle von realen Dingen, von Gegenständen und Menschen, denen wir begegnet sind, über die wir gelesen oder die wir im Film gesehen haben – Erinnerungen. Sie stellen den visuellen Gehalt unserer Träume dar. Aber das Unbewußte bedient sich dieser realen Menschen und Objekte und Erinnerungen zu seinen eigenen Zwecken. Diesen Prozeß nennt man Traumarbeit. Nehmen wir an, Annie hatte als Kind eine Katze.«
    »Sie hatte niemals eine Katze. Und sie hat diesen Kater auch nicht gesehen oder irgendwo von ihm gelesen. Er heißt Tom Tita.«
    »Ich bin sicher, daß sie davon überzeugt war, als sie darauf bestand, nach Arlington zu fahren, und aus diesem Grund habe ich die Fahrt abgelehnt. Aber ich habe mich geirrt. Die Fahrt hat zu einer Katharsis geführt, zu einem Durchbruch. Sie hat erkannt, daß das Haus in ihrem Traum wirklich ihr eigenes Haus war und daß der halbbegrabene Soldat ein Symbol ihrer eigenen unterdrückten Schuld darstellt.«
    »Was symbolisiert der Kater?« Und was ist mit ihren bandagierten Händen? hätte ich beinahe gesagt, als mir klar wurde, daß Richard, der ruhige und mitfühlende und anteilnehmende Richard, mit keinem einzigen Wort ihren zweiten Traum erwähnt hatte. Und was bedeutete das? Daß sie ihm den Traum nicht erzählt hatte? Oder daß sie nicht glauben wollte, was ich ihr erzählt hatte, und sich dafür entschieden hatte, Richards Erklärungen Glauben zu schenken: unterdrückte Schuldgefühle und manifester Inhalt und Traumarbeit. Begriffe, die nicht mehr bedeuteten als Gallenfieber und rheumatische Erregung und für den Patienten von gleichem Nutzen waren.
    »Ich möchte mit Annie sprechen«, sagte ich.
    »Ich werde ihr sagen, daß du angerufen hast, sobald sie aufgewacht ist«, sagte der Onkel Doktor. »Ich möchte dich aber warnen, daß sie

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