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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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kleinen Augen anschauen und sagen: »Das ist genau das, wovon jeder Schriftsteller träumt.« Ich durfte es nicht riskieren. Um Annies willen.
    »Hallo«, sagte ich vorsichtig in den Hörer.
    »Hi, hier ist Kate aus der Bücherei. Wie buchstabieren Sie ›prodromal‹? Ich habe unseren Bestand durchgesehen, und wir haben nichts darüber, deshalb möchte ich es der Kongreßbibliothek durchgeben, aber ich wollte sichergehen, daß ich es richtig buchstabiere. Heißt es…« Sie buchstabierte es mir vor, und ich hielt den Hörer, hörte aber kaum hin.
    »Genauso wird es geschrieben«, sagte ich, wußte aber nicht, ob es stimmte. »Vielen Dank.« Ich legte auf und begann den verschütteten Kaffee mit einer der Papierservietten vom Tablett aufzuwischen.
    »Ich muß unbedingt herausfinden, wie Lincoln auf diese Träume gekommen ist«, sagte Broun, der mich immer noch beobachtete. »In San Diego gibt es einen Mann, der sich mit prophetischen Träumen beschäftigt hat.«
    Brouns Papiere waren naß. Ich trocknete sie mit der Serviette ab.
    »Ich möchte, daß du morgen zu ihm rüberfliegst und mit ihm über Lincolns Träume sprichst.«
    »Und was ist mit dem Wetter? Heute morgen hieß es im Radio, der Flughafen sei geschlossen.«
    »Dann fliegst du eben übermorgen.«
    »Hören Sie, ich verstehe wirklich nicht, was das Ganze überhaupt soll. Ich meine, können Sie den Typ nicht einfach anrufen? Es gibt nichts, was er mir persönlich sagen kann, das er Ihnen nicht auch übers Telefon sagen könnte, oder?«
    »Du kannst ihn beobachten, während er spricht«, sagte Broun und beobachtete, wie ich die nassen Papiere abtupfte. »Du kannst sehen, ob er die Wahrheit sagt oder nicht.«
    »Und was macht das für einen Unterschied?« sagte ich ärgerlich. »Lincoln ist tot, und dieser Typ wird ebensowenig wissen, was ihn diese Träume träumen ließ wie Dr. Stone oder Richard. Egal, wie viele Experten Sie fragen, Sie werden nie herausfinden, was bei ihm wirklich die Träume ausgelöst hat. Sie haben schon eine ganze Reihe von Erklärungen. Picken Sie sich die heraus, die Ihnen am besten gefällt. Was bedeutet das schon?«
    »Lincoln bedeutete es etwas«, sagte er langsam. »Mir bedeutet es etwas.«
    »So wie es Ihnen etwas bedeutete, wann Lee Traveller gekauft hat? Sie brauchten das nicht unbedingt zu wissen. Egal, wann er ihn gekauft hat, es war vor Antietam. Aber Sie haben mich durch ganz West Virginia gehetzt, um die Verkaufsbelege aufzutreiben, und jetzt wollen Sie mich nach Kalifornien schicken, damit die Jagd wieder von vorne losgeht.«
    »Dann vergiß es«, sagte er. »Ich fliege selbst.«
    Ich blickte auf Brouns Papiere hinab und fürchtete, die Erleichterung stünde mir ins Gesicht geschrieben. Die durchweichten Blätter waren zusammengepappt. Ich versuchte, das oberste Blatt abzuschälen, und auf einmal hielt ich die halbe Seite in der Hand. Ich betrachtete sie. Die Tinte war so verlaufen, daß ich nicht lesen konnte, was er geschrieben hatte.
    »Hören Sie, ich meine nur, Sie sollten ein bißchen Abstand von den Dingen bewahren. Sie haben sich vollkommen in Die Bürde der Pflicht verstrickt, und Sie sehen ja, was daraus geworden ist. Und jetzt entwickeln Sie allmählich eine Obsession für dieses neue Buch.«
    »Ich habe gesagt, ich fliege selbst, verdammt noch mal.« Er stand auf. »Gib mir die verdammten Papiere, bevor du sie ruinierst. Und ruf McLaws und Herndon an. Sag ihnen, sie sollen mit dem Druck warten. Ich ändere noch ein weiteres Kapitel.«
    »Das können Sie nicht tun«, sagte ich. »Sie haben es bereits umbrochen. Was soll ich ihnen denn sagen?«
    »Es ist mir egal, was du ihnen sagst. Sag ihnen, ich bin von Die Bürde der Pflicht besessen.« Er griff nach den Papieren, und vollkommen geräuschlos rissen sie in der Mitte durch. Er riß mir die Fetzen aus der Hand. »Sag ihnen, du glaubst, ich wäre ein bißchen plemplem, so wie Lincoln nach Willies Tod. Sag ihnen, ich will die Leiche ausgraben, um einen letzten Blick darauf zu werfen, bevor es in den Druck geht. Wie dieser verrückte Lincoln.«
    Als ich nach unten ging, um aus der Küche McLaws und Herndon anzurufen, schloß er die Tür seines Arbeitszimmers, und ich konnte das unregelmäßige Klappern seiner Schreibmaschine hören, wie das Feuer der Heckenschützen von der anderen Seite des Flusses.

 
5
     
Um Weihnachten 1861 herum, während des Carolina-Feldzugs, kaufte Robert E. Lee Traveller für einhundertsiebenundfünfzig Dollar, zuzüglich eines

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