Lincolns Träume
und versuchte, etwas Glut zu finden, aber das Feuer war vollständig erloschen. Ein kalter Nebel trieb so tief über das Maisfeld, neben dem sie kampiert hatten, daß er nicht einmal die Quasten der Maiskolben erkennen konnte.
»Wie soll’n wir kämpfen, wenn’s neblig ist?« sagte Ben und zog seine Decke fest um die Schultern. Er klapperte mit den Zähnen.
»Der Nebel löst sich auf, wenn die Sonne erst mal da ist, und dann wird’s heiß«, sagte Malachi, und er hörte sich so ruhig und hellwach an, als befände er sich wieder auf seiner Farm, und es wäre drei Uhr morgens, der Beginn eines großartigen Arbeitstags.
»Wie wär’s, wenn wir jetzt ausbüchsen täten?« fragte Ben. Seine Zähne klapperten so laut, daß er das Gewehrfeuer gar nicht hätte hören können. »Könnt uns keiner sehen, in dem Nebel.«
»Ich dachte, du wärst der, der sich freiwillig gemeldet hat. Und hier hast du’s, wofür du dich gemeldet hast.«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich hatte einfach nicht daran gedacht, daß ich getötet werden könnte.«
»Wie soll ein Mensch denn bloß schlafen, wenn ihr gackert wie die Hühner?« sagte Toby. Er gähnte. »Sollt ihr abhau’n? Erwischt es euch? Mich, mich erwischt es nich’. Nich’ Toby Banks. No, Sir, hab’s meiner Mama versprochen, daß mir nix passiert.« Er zog sich die Decke über die Füße und drehte sich auf die Seite, und Ben legte sich wieder hin und beobachtete, wie der Nebel über Malachi und das kalte Feuer hinwegtrieb.
Toby knuffte ihn mit dem Fuß wach. »Sitzt die ganze Nacht auf und machst dir Sorgen, und während der Schlacht schläfst du dann«, sagte er. »Paß bloß auf, daß der alte Stutzer nicht mitkriegt, daß du pennst.«
Ben setzte sich auf. Die Sonne war aufgegangen, und der Nebel war weg. Dampf stieg über dem Maisfeld auf, wie Rauch. Malachi hatte ein neues Feuer gemacht. Er röstete Maiskolben in der Glut. »Ich bin schon fast eine Stunde auf, das Kriegsgeschrei üben«, sagte Toby.
Ben stand auf, faltete sein Bettzeug und versuchte wach zu werden. Toby pfiff etwas, ein Tanzliedchen, doch als Ben sich umwandte und ihn ansah, verstummte er. Er war damit beschäftigt, irgend etwas auf ein schmutziges weißes Taschentuch zu schreiben. »Ich will, daß die Yankees wissen, wer da auf sie schießt«, sagte er. Er schnitzte an einem Zweig herum, bis kaum noch etwas davon übrig war, dann benutzte er ihn als Nadel, um das Taschentuch an seinem Hemd zu befestigen. »Heißt ja nicht, daß ich einen so nah rankommen laß, daß er’s lesen kann.« Er ging zum Feuer hinüber und klaubte einen der Maiskolben aus der Glut. Er war außen verkohlt, aber er schmeckte wundervoll.
Sie weckte mich aus tiefem Schlaf. Ich hatte den Eindruck, daß es beinahe Morgen war, und ich konnte mir nicht vorstellen, wer mich um diese Zeit anrufen könnte. Ich nahm den Hörer ab, und als ich das tat, klingelte es wieder, und ich dachte: »Es ist der Anrufbeantworter«, und drückte etwas, das ich für den Wiedergabeknopf hielt und hatte noch Zeit, mich darüber zu wundern, daß keine Nachricht gespeichert war, ehe es wieder klingelte und mir klar wurde, daß es die Türklingel war.
Auf der Vordertreppe stand Annie. Sie hatte ihren grauen Mantel an und trug einen Matchbeutel. Neben ihr auf der Treppe stand ein Koffer. Es war dunkel und neblig draußen, und ich dachte: »Der Nebel löst sich auf, wenn die Sonne erst mal da ist, und dann wird’s heiß.«
»Kann ich hierbleiben?« sagte sie.
Mir kam es immer noch so vor, als ob das Telefon geklingelt hätte. »Hast du angerufen?« sagte ich.
»Nein«, sagte sie. »Ich weiß, ich hätte dich vorwarnen sollen, aber… wenn es dir ungelegen kommt, kann ich in ein Hotel gehen.«
»Mir war so, als hätte ich das Telefon gehört«, sagte ich und rieb mir das Gesicht, als vermutete ich darin einen rauhen Bart, wie Broun einen hatte. »Wie spät ist es?«
Sie mußte den Matchbeutel von einer Hand in die andere nehmen, um auf ihre Uhr zu schauen. »Zehn Uhr dreißig. Ich habe dich aufgeweckt, nicht wahr?«
Nein, hast du nicht, hätte ich beinahe gesagt. Das war das Problem. Sie hatte es mit all ihrem Geklingele an der Haustür nicht fertiggebracht, mich aufzuwecken. Ich schlief immer noch und träumte von ihr, und das war nicht der Traum irgendeines anderen. Sie sah wundervoll aus, wie sie da in ihrem grauen Mantel stand, ihr helles Haar ein wenig vom feuchten Nebel gekräuselt. Sie sah aus, als wäre sie soeben aus einem langen und
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