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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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erquickenden Schlaf erwacht, mit klaren und hellen Augen und einem gesunden Rosa auf den Wangen.
    »Natürlich kannst du bleiben«, sagte ich, immer noch nicht munter genug, um sie zu fragen, warum sie hier war oder um mich überhaupt darüber zu wundern. Ich stieß die Tür auf und beugte mich neben ihr herunter, um den Koffer hochzuheben. »Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Broun ist nicht da. Er ist in Kalifornien. Du kannst so lange bleiben, wie du willst.«
    Ich geleitete sie die Treppe zum Arbeitszimmer hoch, immer noch unfähig, das Gefühl abzuschütteln, es sei schon sehr spät. Der Anrufbeantworter blinkte hektisch – ich mußte ihn bei meiner schläfrigen Fummelei auf ›Rückruf‹ gestellt haben. Ich fragte mich, welchen bedauernswerten Menschen ich während der letzten zehn Minuten wohl belästigt hatte. Ich drückte den ›Pause‹-Knopf und gähnte. Ich war immer noch nicht wach. Ich sollte besser einen Kaffee machen.
    »Möchtest du Kaffee?« fragte ich Annie, die in der Tür des Arbeitszimmers stand und erholt und hellwach und wundervoll aussah.
    »Nein«, sagte sie.
    Meine Hand lag immer noch auf den Bedienungsknöpfen des Anrufbeantworters. »Ich habe mir wegen dir Sorgen gemacht. Ich habe dich anzurufen versucht. Hattest du wieder einen Traum?«
    »Nein«, sagte sie. »Die Träume haben aufgehört.«
    »Sie haben aufgehört?« sagte ich. »Einfach so?« Ich war immer noch nicht wach.
    Der Anrufbeantworter blinkte immer noch. Ich hämmerte auf die Knöpfe. Das Tonband klickte. »Annie ist weg«, sagte Richard. »Ich denke, sie wird zu dir kommen. Du mußt sie dazu bringen, daß sie zurückkommt. Sie ist krank. Ich habe es nur getan, um ihr zu helfen. Ich hatte keine andere Wahl.«
    »Was getan?« fragte ich.
    Sie holte etwas aus ihrem Matchbeutel hervor. »Er hat mir das hier ins Essen getan«, sagte sie und reichte mir zwei Kapseln in einem Plastikbeutel. Eine der Kapseln war zerbrochen, und die Unterseite des Beutels war mit einem weißen Pulver bestäubt.
    »Was ist das?« sagte ich. »Elavil?«
    »Thorazin«, sagte sie. »Ich habe die Flasche in seiner Arzttasche gefunden.«
    Thorazin. Ein Medikament, das stark genug war, um ein Pferd umzuhauen. »Richard hat dir das gegeben?« fragte ich und schaute den Beutel blöde an.
    »Ja«, sagte sie. Sie setzte sich in den Clubsessel. »Als ich von Arlington zurückgekommen war, fing er an, es in mein Essen zu tun.«
    Bei meinem letzten Anruf hatte ich sie gefragt, ob sie geschlafen hätte, und sie hatte mir gesagt, Richard habe ihr eine Tasse Tee gemacht und sie ins Bett geschickt. Sie war so schläfrig gewesen, daß sie auf meine Fragen kaum hatte antworten können. Weil Richard ihr Thorazin in den Tee getan hatte. »Thorazin wird in psychiatrischen Kliniken eingesetzt. Bei unkontrollierbaren Patienten.«
    »Ich weiß«, sagte sie.
    »Wieviel hat er dir davon gegeben?«
    »Ich weiß nicht. Er… Ich habe gestern abend und heute noch nichts gegessen.«
    Ich hatte sie vor drei Tagen nach Arlington hinausgefahren. Sie konnte nicht länger als zweieinhalb Tage unter Thorazin gestanden haben, also konnte nicht allzuviel in ihrem Organismus sein, aber welche Dosis hatte Richard ihr gegeben? Jede Dosis war zuviel.
    »Annie, hör zu, laß mich das Krankenhaus anrufen. Dort wird man wissen, was zu tun ist. Wir müssen dieses Zeug aus deinem Körper herausbekommen.«
    »Jeff, erzähl mir, was mit dem Pferd geschehen ist«, sagte sie ruhig. »Mit dem grauen Pferd, von dem ich geträumt habe. Es ist doch nicht nach vorn auf die Knie gefallen, oder?« Ich sah nach ihren Händen und erwartete, daß sie die Sessellehnen umklammerten, doch sie lagen ruhig in ihrem Schoß. »Bitte sag es mir.«
    Ich kniete vor ihr nieder und faßte ihre Hände. »Annie, der Traum ist unwichtig. Was wichtig ist, das ist, daß du eine gefährliche Droge im Körper hast. Ich weiß nicht, welche Symptome sie hervorrufen kann, aber wir müssen uns darüber informieren. Es könnte irgendwelche Entzugserscheinungen geben. Du mußt in ein Krankenhaus. Dort weiß man, was zu tun ist.«
    »Nein«, sagte sie völlig unbeeindruckt. »Sie werden mir etwas geben, damit die Träume aufhören.«
    »Nein, werden sie nicht. Sie werden versuchen, das Thorazin aus deinem Organismus herauszubekommen, und sie werden Untersuchungen anstellen, wieviel genau dir Richard gegeben hat und für wie lange. Was ist, wenn er dir schon seit Wochen Medikamente gibt? Was ist, wenn Thorazin nicht das einzige

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