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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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einem Haufen unleserlichen farbigen Papiers zerknüllt. »George Washingtons Mutter? Oder seine Tochter vielleicht? Hatte George Washington überhaupt Töchter?« Sie starrte den Prospekt an. »Ich hole in der Lobby einen neuen.« Ich warf ihn in den Papierkorb.
    »Annie, es wird alles gut werden«, sagte ich. »Ich passe auf dich auf.«
    »Ich weiß.«
    Mary Washington war Georges Mutter. Wir frühstückten in einem Coffeeshop dem Gasthaus gegenüber, und dann gingen wir in die Stadt, um Marys Frisierspiegel und ihre Sonnenuhr in einem kleinen Haus am Fuße des Parks von Kenmore zu besichtigen.
    Den ganzen Morgen über beobachtete ich Annie besorgt, aber sie machte den Eindruck, als ginge es ihr gut. Die warme Frühlingsluft und die Bewegung schienen bei ihr Wunder zu wirken. Sie lachte über meine Kommentare darüber, welche Art Mensch Mary Washington wohl gewesen war, wenn man bedachte, daß ihre Tochter sie so weit wie möglich vom Haus entfernt untergebracht hatte, und sie sagte: »Sie hat vielleicht ebensoviel über diesen gräßlichen Frisierspiegel geredet wie dieser Führer.«
    Sie lächelte, ein wunderbares, sorgloses Lächeln. Seltsamerweise ließ es sie älter erscheinen, mehr wie eine Frau und weniger wie ein verwildertes Kind, und ich dachte bei mir, gut, ich mache es genau richtig.
    Doch nach dem Mittagessen, als wir uns bereits im dritten Antiquitätenladen umsahen, wirkte sie plötzlich müde. Sie hob eine Porzellankatze hoch und begann mit einem Satz, brach ihn jedoch mittendrin ab und ging zum Fenster des Antiquitätenladens, um ängstlich hinaus nach Süden zu schauen, als erwartete sie jeden Moment, A. P. Hills Männer dort auftauchen zu sehen.
    »Geht es dir gut?« fragte ich, besorgt darüber, es könnte sich dabei um eine Nachwirkung des Thorazins handeln.
    Sie hielt immer noch die Porzellankatze in der Hand.
    »Laß uns irgendwo Kaffee trinken gehen«, sagte ich. Ich hatte schon den ganzen Tag über Kaffee in sie hineingeschüttet, Dr. Stones Theorie, daß Koffein schlechte Träume brächte, zum Trotz. Ich konnte mir keine bessere Methode vorstellen, das Thorazin aus ihrem Körper herauszubringen.
    »Ich glaube, ich habe genug Kaffee getrunken«, sagte sie lächelnd. »Mir geht’s gut. Ich habe bloß Kopfschmerzen.«
    »Nun, wie wär’s dann mit einer Aspirintablette?«
    »Nein, mir geht’s gut. Bin bloß ein bißchen müde. Vielleicht sollten wir zum Gasthof zurückgehen.«
    »Aber ja. Willst du zu Fuß gehen? Wenn du müde bist, kann ich zurücklaufen und den Wagen holen. Oder wir rufen ein Taxi.«
    »Ich glaube nicht, daß es in Fredericksburg Taxis gibt«, sagte sie und stellte die Porzellankatze vorsichtig auf einem Klapptisch ab. »Es besteht kein Grund zur Panik, Jeff. Die Kopfschmerzen kommen von den Nebenhöhlen. Ich bekomme Heuschnupfen. Vielleicht liegt es an der Apfelblüte.«
    Auf dem Rückweg schien es ihr gut zu gehen. Ein leichter Wind war aufgekommen, und er wehte ihr das helle Haar aus dem Gesicht und von den Wangen. »Das ist eine hübsche Stadt«, sagte sie, »mit all diesen alten Häuser. War hier eine Schlacht? Im Bürgerkrieg?«
    »Ja.« Ich zeigte auf einen klapprigen blauen Ford Sedan mit einem handgemalten Zeichen auf der Seitentür. »Ich habe dir ja gesagt, daß es in Fredericksburg Taxis gibt.«
    Wir stiegen über die Außentreppe zu unseren Zimmern hoch. Eine schwarze Katze mit weißen Pfoten sonnte sich auf der zweitobersten Stufe. Sie machte keinerlei Anstalten, uns auszuweichen.
    »Hallo, du«, sagte Annie und bückte sich, um sie zu streicheln. Die Katze schloß die Augen und ließ sich gnädig streicheln, als täte sie Annie damit einen Gefallen. »Ich habe mir immer gewünscht, eine Katze zu haben. Mein Vater war allergisch gegen Katzen.«
    »Dein Vater?«
    »Ja. Er bekam Nesselausschlag davon.«
    »Ich weiß überhaupt nichts über dich. Über deine Familie, woher du kommst, was du getan hast, ehe du anfingst Lees Träume zu träumen. Wo lebst du?«
    Sie richtete sich auf, ihr Lächeln war verschwunden. Sie sah genauso aus wie an dem Abend, als sich Richard über Lincolns psychologische Probleme ausgelassen hatte. »In einer Kleinstadt. Ungefähr so groß wie Fredericksburg.«
    »Broun hat einen Kater«, sagte ich hastig. »Ein selbstsüchtiges Biest. Wie diese hier.« Ich kraulte die Katze unter ihrem schwarzen Kinn und ging ganz nach oben, um Annie die Tür aufzumachen. In diesem Moment haßte ich Richard mehr als je zuvor.
    Ich wußte überhaupt

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