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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Ritte und der tagelangen Schlachten vorstellen, die er ertragen hat. Doch ich bin kein Künstler.«
Als Michael Miley Lee photographierte, bestand Lee darauf, auf Traveller zu sitzen, »so wie wir vier Jahre Krieg zusammen durchgestanden haben.«
     
    NACH DEM ABENDESSEN gingen wir zum Gasthof zurück und warteten darauf, daß Lees Adjutanten die letzte Botschaft überbringen würden, damit er seine Stiefel ausziehen, sich auf sein Feldbett legen und schlafen konnte.
    Annie sah noch einmal die Fahnen durch, die ich in der Nacht zuvor gelesen hatte, und ich holte meinen guten alten Freeman hervor und begann das Kapitel über Gettysburg zu lesen. Ich konnte unmöglich glauben, daß Lee nicht davon geträumt haben sollte, der schlimmsten Schlacht des ganzen Krieges, dem eigentlichen Kriegsende für die Konföderation, wenn Broun mir dabei auch widersprechen würde.
    Er behauptete, daß Antietam die entscheidende Schlacht gewesen, daß, obwohl das Töten noch weitere drei Jahre angedauert hatte, mit dem Scheitern von Lees Vorstoß nach Maryland der Krieg für die Konföderation praktisch zu Ende gewesen sei und daß Lee es gewußt habe.
    Ob das nun zutraf oder nicht, und, noch wichtiger, ob Lee sich wirklich dessen bewußt gewesen war, so wußte er es doch mit Sicherheit ein Jahr später in Gettysburg, und wenn ihn etwas schlecht hatte träumen lassen, dann bestimmt diese unglückselige Schlacht. Die Konföderation auf ihrem Scheitelpunkt. Lee schaffte es bis nach Pennsylvania hinein, bevor ihn die Unionsarmee stoppte, und dann unternahm er drei Tage lang einen Angriff nach dem andern, und es sah danach aus, als könnte er am Ende doch noch gewinnen.
    Am Morgen des dritten Tages traf sich Lee mit Longstreet vor einem Schulgebäude. Longstreet gefiel Lees Angriffsplan nicht. Später behauptete Longstreet, er habe gesagt: »Es ist meine Überzeugung, daß keine fünfzehntausend Mann, die jemals in die Schlacht geschickt wurden, diese Stellung einnehmen können«, und habe die Angelegenheit damit als erledigt betrachtet. Lee machte nie jemand anders als sich selbst für das Scheitern von Pickett’s Charge verantwortlich, aber als sein Adjutant Colonel Venable bitter sagte, er habe eindeutig gehört, wie Lee Longstreet angewiesen hätte, Hoods Division zur Verstärkung zu schicken, hatte Lee gesagt: »Ich weiß! Ich weiß!«
    Lees Plan bestand darin, Picketts Männer das Zentrum der Unionstruppen frontal angreifen zu lassen, und es hatte beinahe funktioniert. Picketts Männer schafften es bis zu der später als Bloody Angle berühmt gewordenen Ecke einer Steinmauer und hielten sie fast zwanzig Minuten lang ohne jede Unterstützung, der Tatsache zum Trotz, daß es diesmal umgekehrt wie in Fredericksburg war, nämlich daß Lees Truppen über offenes Feld auf eine verteidigte Höhe zumarschierten. Doch Longstreet ließ seine Reservedivisionen nicht eingreifen, und sie konnten die Mauer nicht halten. Als die Soldaten zurückzufallen begannen, ritt Lee ihnen entgegen und schickte sie zur Seminary Ridge zurück, wobei er auf beinahe jeden Vorbeikommenden ermutigend einsprach.
    »Versuchen Sie, Ihre Divison hinter diesem Hügel neu zu formieren«, befahl er Pickett, und Pickett hatte gesagt: »General Lee, ich habe keine Division mehr.«
     
    Annie legte sich gegen zehn Uhr schlafen, die Decke über ihre Schultern hochgezogen, als wäre ihr kalt. Ich rief den Anrufbeantworter an, und Richard teilte mir seine neue Theorie mit, diesmal über sexuelle Schuldgefühle und unterdrückte ödipale Neigungen.
    Ich hatte schon seit langem das Gefühl, daß diese Anrufe, diese Theorien zu nichts führten, daß sie alle nur mich davon überzeugen sollten, Annie zurückzubringen, aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Die Theorien paßten nicht zusammen. Manchmal widersprachen sie einander sogar, und er sprang mit derselben ruhigen Nachdrücklichkeit von einer zur anderen, wie ein Mann, der einen Traum nacherzählt. Er benutzte immer wieder seine Onkel-Doktor-Stimme, aber beim Zuhören hatte ich das Gefühl, daß er nicht mich zu überzeugen versuchte, sondern sich selbst.
    »Ich habe heute mit einem Jungianer gesprochen«, sagte Broun, als Richard fertig war. Er sprach ›Jung‹ so aus, daß es sich auf ›Klang‹ reimte. »Er vertritt die Theorie, daß unser Unterbewußtsein im Grunde ein Vorratsbehälter für alles ist, was sich in der Vergangenheit zugetragen hat. Jungs Kollektives Unbewußtes. Nur meint er, es handle sich nicht

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