Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
Vom Netzwerk:
erhellt hatte und in der der Unionsbote in die konföderierten Vorposten gestolpert war, hatte Lee seinen Stab durcharbeiten lassen. In der Morgendämmerung war er hinausgeritten, um die Schützengräben zu inspizieren, welche die Arbeitsmannschaften über Nacht angelegt hatten. Keins der Bücher erwähnte, ob Lee nach der Schlacht etwas Ruhe gefunden hatte, obwohl er nach diesen Berichten kurz vor dem Zusammenbruch gestanden haben mußte.
    Dr. Stone hatte gesagt, daß der Körper sich dafür rächte, wenn man ihm den REM-Schlaf vorenthielt. Sollte das der Sinn der Träume sein? Hatte Lee, erschöpft vom Schlafmangel und den Anstrengungen der Schlacht, ein Traumgewitter erlebt?
    Ich konnte bei Chancellorsville kein ähnlich klares Schema finden. Jackson war am zweiten Mai verwundet worden, und sobald Lee davon hörte, schrieb er ihm: »Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle verwundet worden.« Die Nachricht von der Amputation des Arms erreichte ihn in der Nacht zum vierten Mai. Es wurde nichts davon erwähnt, daß Lee in dieser Nacht an Schlaflosigkeit gelitten hätte, obwohl es kaum denkbar war, daß er nach einer Nachricht wie dieser gesunden Schlaf hatte finden können. Am fünften hieß es, daß sich Jackson erholte, und in dieser Nacht schlief er zweifellos gut, unter einem Mückennetz bei Fairview.
    Am Morgen des siebten Mai begann es Jackson schlechter zu gehen, und am Nachmittag delirierte er bereits, rief nach A. P. Hill und befahl der Infanterie, sich fertigzumachen. »Tun Sie Ihre Pflicht«, sagte er zu dem Arzt, der ihm Quecksilber und Opium gab. »Fertigmachen zum Angriff!« Am Sonntag sagte er klar und deutlich, aus dem letzten Traum von irgendeiner Schlacht heraus: »Laßt uns den Fluß überqueren und unter den Bäumen ausruhen.« Und er starb.
    Annie klappte beide Lincoln-Bücher zu. »Ob sie vielleicht noch etwas anderes über Lincoln haben?« fragte sie.
    »Keine Ahnung«, sagte ich. »Vielleicht haben sie etwas bei den Nachschlagewerken. Die Abteilung ist unten.«
    Sie nickte und ging hinaus, wobei sie ihre Notizen mitnahm.
    Ich begann die Lee-Biographien durchzusehen und wünschte, ich hätte den Freeman mitgebracht. Das erste Buch war so unmöglich gegliedert, daß ich nicht einmal Chancellorsville fand, von irgendwelchen Hinweisen auf Lincolns Schlaflosigkeit ganz zu schweigen, doch im zweiten, so alt die Goldschnittseiten auch sein mochten und wenn es auch in einer kaum verständlichen blumigen Sprache geschrieben war, stand: »Als Lee die grauenhafte Nachricht überbracht wurde, daß den Bemühungen der Ärzte kein Erfolg beschieden war und daß es mit Jackson rasch zu Ende ging, wandte er sich jenem letzten und besten Quell der Hoffnung in Zeiten der Not zu. Die ganze Nacht hindurch betete er auf den Knien inbrünstig um Jacksons Genesung.«
    Also war er die ganze Nacht aufgewesen und hatte gebetet, und wahrscheinlich hatte er aus Sorge um Jackson schon zwei oder drei Nächte zuvor schlecht geschlafen. Es existierte offenbar ein Schema. Bei jeder Begebenheit, von der Annie geträumt hatte, hatte Lee mehrere Tage hintereinander ohne Schlaf auskommen müssen. Wenn er dann endlich Schlaf gefunden hatte, war es vielleicht zu dem von Dr. Stone beschriebenen Traumgewitter gekommen. Dr. Stone hatte von heftigen, erschreckenden Träumen gesprochen. Konnten sie so heftig gewesen sein, daß sie ihren Weg über einhundert Jahre hinweg bis zu Annie gefunden hatten? Jackson war fünf Monate nach der Schlacht von Fredericksburg gestorben.
    Ich sah auf meine Uhr. Es war vier Uhr dreißig. Ich stapelte die Bücher und brachte sie wieder nach unten. Annie war bei den Nachschlagewerken und hatte ein großes Buch vor sich aufgeschlagen. Also mußten sie hier doch etwas gehabt haben. Ich ging zu dem Alkoven hoch und stellte die Bücher an die Stellen im Regal zurück, wo sie hingehörten, damit sie hier stünden, wenn ich sie noch einmal brauchen sollte, und nicht auf einem Wägelchen, das von der grimmig dreinschauenden Bibliothekarin bewacht wurde – und fand ein Buch über Gettysburg.
    Es wog eine Tonne. Ich versuchte gar nicht erst, es zu dem Raum mit den Biographien hochzutragen oder es auch nur auf einen Tisch zu legen. Ich legte es einfach bloß geöffnet auf den Boden und beugte mich darüber, um nachzusehen, ob bei Gettysburg das Muster der Schlaflosigkeit weiterbestanden hatte. Gettysburg war die nächste große Schlacht nach Chancellorsville, aber Annie träumte nicht von allen Schlachten. Ich

Weitere Kostenlose Bücher