Lincolns Träume
nicht!«
Sie umklammerte mich fester, zitternd in ihrem dünnen Nachthemd. Ich tätschelte ihren Rücken und griff hinter mir mit einer Hand nach der Tür. Ich fürchtete, sie könnte von außen verschlossen sein, und wie würde ich Annie dann je wieder über die enge Treppe nach unten und in den Gasthof zurückbekommen? Die Klinke gab unter dem Druck meiner Hand nach und ging auf. »Laß uns hineingehen, Annie«, sagte ich. »Es ist kalt hier draußen, Liebes. Laß uns zurück ins Zimmer gehen.«
Sie klammerte ihre Arme um mich und preßte ihr Gesicht an meinen Hals. »Ich will nicht, daß du weggehst«, sagte sie und hob ihr tränenbedecktes Gesicht zu meinem hoch, mit einem Blick voller Liebe und Bedauern. Ihre Augen waren weit geöffnet, doch sie sah mich nicht. An wen sie sich auch klammern mochte mit der Bitte, nicht wegzugehen, ich war es nicht.
Ihr Nachthemd war am Nacken aufgegangen und gab die lange geschwungene Kurve ihres Halses frei. Durch die dünne Baumwolle des Nachthemds hindurch spürte ich ihr unregelmäßiges Schluchzen. »Annie«, sagte ich, und der Schmerz in meiner Stimme weckte sie auf.
Ihre Augen fixierten mich plötzlich, erschreckt oder überrascht. »Wo bin ich?« sagte sie und blickte bestürzt auf die Treppe und zum nebelverhüllten Rappahannock hinüber. »Habe ich wieder geträumt?«
»Ja«, sagte ich und löste behutsam ihre Hände von meinem Nacken. Ich trat zurück und eine Stufe nach unten, wobei ich beinahe auf die Katze getreten wäre. »Kannst du dich daran erinnern?«
»Ich war in Arlington«, sagte sie. Sie blickte auf ihr offenes Nachthemd hinab. »Was habe ich gemacht? – als ich geschlafen habe?«
Ich drückte die Klinke hinunter und öffnete die Tür. »Du bist ein bißchen schlafgewandelt, mehr nicht.« Ich bedeutete ihr, durch die Tür zu gehen, wobei ich mich auf Distanz von ihr hielt und sie nicht berührte. Die Katze stand auf und bummelte hinter ihr drein, und ich machte ihr die Tür vor der Nase zu, verriegelte die Tür und folgte Annie in ihr Zimmer.
Sie stand mit geneigtem Kopf und knöpfte sich gerade das Nachthemd zu. Ich schloß die Tür und legte die Kette vor, was ich von Anfang an hätte machen sollen. Wenn ich es getan hätte, wäre das alles nicht passiert.
»Du hast gesagt, du wärst im Traum in Arlington gewesen«, sagte ich. »War es derselbe Traum wie beim letztenmal?«
»Nein.« Sie nahm ihren blauen Morgenrock vom Bettpfosten und zog ihn an. »Ich stand mit der Bedienung aus dem Coffeeshop auf der Veranda, der mit dem roten Haar, und sie machte sich gerade zum Aufbruch fertig.« Sie verknotete den Gürtel des Morgenmantels und setzte sich aufs Bett, wobei sie den Mantel mit einer Hand eng an den Hals hielt. »Wir warteten auf die Kutsche. Auf der Veranda standen eine Menge Koffer. Ich wollte sie nicht weggehen lassen.«
»Soviel habe ich mitbekommen«, sagte ich und dachte an ihre Arme um meinen Nacken, an die wundervoll geschwungene Linie ihres Halses. »Warum hast du gesagt: ›Keine Tränen in Arlington‹?«
»Das habe ich nicht gesagt. Er…« Sie runzelte die Stirn und sah an mir vorbei. »Wir standen auf der Veranda, und dann…« Sie beugte sich vor, als wollte sie nach etwas greifen, obwohl ihre Hand den Kragen ihres Morgenmantels nicht losließ.
»Warum reden wir nicht am Morgen darüber«, sagte ich. Ich stand auf und schob den grünen Sessel zur Tür hinüber. »Das wird dich wohl kaum aufhalten, wenn du wieder schlafwandeln solltest, aber es dürfte dich lange genug aufhalten, daß ich dich höre.«
»Jeff«, sagte sie, den blauen Mantel eng um ihren Hals zusammenziehend. »Es tut mir leid, daß ich… wegen allem.«
Ich wollte sie anschreien: »Ich bin nicht Richard. Ich würde es niemals ausnutzen, wenn du schläfst, um Himmels willen«, doch ich war mir nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach.
»Es gibt nichts, was dir leid tun müßte. Du hast geträumt«, sagte ich, ging in mein Zimmer zurück und schloß die Tür.
Mein Kragen war naß von Annies Tränen. Ich zog das Hemd aus und ein neues an, und dann ging ich zum Fenster und schaute hinaus und wartete darauf, daß es hell würde, und dachte über Richard nach. ›Ich wollte mich nicht an sie heranmachen, es ist einfach passiert‹, hatte er gesagt, als ich ihm vorgeworfen hatte, er habe Annie ausgenutzt. ›Ich wollte ihr doch nur helfen.‹
»Das ist keine Entschuldigung«, sagte ich laut und wußte nicht, ob ich mit Richard sprach oder mit mir selbst.
Als
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