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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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neunzehnten Jahrhundert gebaut hatte.
    Sie hätte wunderschön sein können mit ihren hohen Schiebefenstern und dem geölten Holzfußboden, wirkte jedoch ausgesprochen bedrückend. Die Hartholzböden hatte man mit gepunkteten Kacheln und einem Teppich verdeckt, der aussah, als sei die Unionsarmee mit ihren genagelten Stiefeln über ihn hinwegmarschiert. Man hatte dicke Stoffvorhänge vor die Fenster gezogen, so daß das einzige Licht von den grellen Neonröhren an der Decke kam.
    Ich hatte schon eine Menge Zeit in Bibliotheken verbracht, und für gewöhnlich zog ich die altmodischen mit ihren verstaubten Bücherstapeln den modernen, mit Plastik und Grünzeug vollgestopften ›Multimedia-Centern‹ vor, doch hier wäre ich über eine kleine Renovierung froh gewesen.
    Der Raum mit den Biographien lag abseits und ein paar Treppenstufen erhöht, vermutlich ein altes Klassenzimmer, in dem die Tafel durch Bücherregale ersetzt worden war. Ich legte mein Notizbuch auf den zerkratzten Holztisch und ging nachsehen, was sie unter ›L‹ hatten. Es gab genau zwei Bücher über Lincoln: Thomas’ Abraham Lincoln und ein altes Buch mit einem Ledereinband, dessen Autor ich nicht einmal entziffern konnte.
    Ich reichte sie Annie. »Wir sind hier im Süden. Wir haben Glück, daß sie überhaupt etwas über ihn haben.«
    Sie trug die Bücher zum Tisch, und ich ging auf alle Fälle hinunter, um nachzusehen, was sie über Lee hatten. Wir mochten uns hier im Süden befinden, aber ich hatte mit ihm nicht mehr Glück als mit Lincoln. Ich ging hinaus zum Auskunftsschalter, fragte nach der Historischen Abteilung und wurde in einen kleinen Alkoven geschickt, einen halben Treppenabsatz über der Abteilung mit den Nachschlagewerken, wo ich das Drogenkompendium gefunden hatte.
    Weil ich nun schon einmal hier war und da ich wußte, wo Annie war, nahm ich die Gelegenheit wahr, in dem besagten Kompendium unter Phenobarbital nachzuschlagen. Es stand ungefähr das darin, was ich erwartet hatte, daß es ein Tranquilizer sei und den REM-Schlaf unterdrücke. Barbiturate waren suchterzeugend, besonders wenn man sie über einen langen Zeitraum hinweg einnahm, und vielleicht hatte sich Richard deshalb so über Annies Hausarzt aufgeregt, aber Phenobarbital war vergleichsweise mild und hatte nicht annähernd so viele Kontraindikationen und Nebenwirkungen wie Elavil, ganz zu schweigen von Thorazin.
    Ich ging zum Alkoven hinauf. ›Virginiana‹ stand darüber, und die Ausbeute war so spärlich wie bei den Biographien, was keinerlei Sinn ergab. Die Schlacht von Fredericksburg zählte zu den bedeutenderen Schlachten, außerdem befanden wir uns in Schußentfernung von Spotsylvania, Chancellorsville und Wilderness. Diese Bibliothek hier hätte eine der Hauptquellen mindestens für diese Schlachten sein sollen und, da Forscher unvermeidlich hierher kommen mußten, ebenso für den übrigen Bürgerkrieg.
    Ich packte zusammen, was ich über die drei Schlachten, von denen Annie geträumt hatte, finden konnte und brachte die Bücher in den Raum mit den Biographien hinauf. Die Bibliothekarin, eine Frau mit stechendem Blick, die sich als Lehrerin in der alten autoritätsgläubigen Zeit wohlgefühlt haben würde, schickte mir einen Blick nach, machte jedoch keinen Versuch, mich aufzuhalten.
    Annie hatte die Bücher aufgeschlagen und einige Seiten aus meinem Notizbuch herausgerissen, um sich darauf Notizen zu machen. Bei meinem Eintreten sah sie hoch und lächelte, dann beugte sie sich wieder über das Buch, wobei ihr das helle Haar nach vorn über die Wangen fiel. Ich nahm ihr gegenüber Platz und versuchte, etwas über Lees Schlafgewohnheiten herauszufinden.
    Lees ›kostbare Stunden‹ des Schlafs zwischen neun Uhr und Mitternacht konnten nicht für die Träume, die Annie spät in der Nacht oder tagsüber gehabt hatte, verantwortlich sein, aber sie hatte gesagt, daß die letzteren erst dann aufgetreten waren, als sie aufzubleiben versucht hatte, um die Träume zu vermeiden. Und vielleicht hatte Lee sich hier und da ein paar Stunden Schlaf als Ausgleich für die schlaflosen Nächte abgezwackt.
    Lee hatte in der Nacht vor Antietam ›wenig geschlafen‹ und, General Walker zufolge, der ihn auf Traveller sitzend in der Flußmitte angetroffen hatte, als er seine Division hinübergeführt hatte, war Lee die ganze Nacht dort gewesen und hatte den Rückzug über den Potomac überwacht.
    In der Nacht vor Fredericksburg, der gleichen Nacht, in der das Nordlicht den Himmel

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