Lincolns Träume
es hell genug zum Lesen war, schlug ich Band Eins auf. Ich hatte Band Vier, den mit dem Index, als Schlafwandler-Alarmanlage nebenan auf dem Sessel gelassen, aber ich wußte sowieso nicht, wonach ich suchen sollte, abgesehen von dem Hinweis auf Arlington. Wenn sich der Traum tatsächlich dort zugetragen hatte, dann stammte dieser Traum aus der Zeit vor dem Krieg, was bedeuten würde, daß meine sorgsam ausgearbeitete Theorie ein Scherbenhaufen war und ich wieder von vorn anfangen konnte, und Band Eins war ein ebenso guter Anfang wie jeder andere Band.
Ich las bis um halb neun, dann ging ich durch meine Schlafzimmertür nach draußen und hinüber zum Coffeeshop, um zu frühstücken. Die rothaarige Serviererin hatte Dienst. »Sie heißen Katie, nicht wahr?« fragte ich sie, als sie meine Kaffeetasse nachfüllte.
»Nein«, sagte sie mißbilligend, als dächte sie, ich wollte in Annies Abwesenheit mit ihr flirten. »Ich heiße Margaret. Haben Sie’s beide gestern bis zum Schlachtfeld raus geschafft?«
»Nein«, sagte ich. Vielleicht hätten wir es besuchen sollen, dachte ich. Vielleicht hätte Annie dann wieder von Fredericksburg geträumt, und ich hätte gewußt, was ich ihr beim Aufwachen sagen sollte.
»Wir standen auf der Veranda der Villa Arlington«, hatte Annie gesagt. »Die Bedienung wollte aufbrechen, und ich wollte sie nicht weggehen lassen.« Wer könnte Lee besucht haben, den er nicht weggehen lassen wollte? Ich wußte nicht viel über Lees Privatleben. Alle Recherchen, die ich für Broun angestellt hatte, hatten mit bestimmten Schlachten zu tun gehabt, und ich wußte nicht einmal genau, wer außer seinem Sohn Rob, den er in die Schlacht von Antietam zurückgeschickt hatte, und seiner Cousine Markie Williams, die durch feindliches Gebiet hindurch nach Arlington zurückgekehrt war, um Lees Habseligkeiten zu holen, und dabei die Katze gefunden hatte, sonst noch zur Familie gehört oder welche Freunde er gehabt hatte.
Wen würde Lee unter Tränen umarmt haben? Die Antwort lautete: niemand. Die Männer, die mit Lee zusammen im Krieg gewesen waren, beschrieben ihn fast gleichlautend als ›ernst und freundlich‹ und ›keine Anzeichen von Gefühlen zeigend‹. Einer seiner Biographen hatte ihm den Spitznamen ›Mann aus Marmor‹ gegeben, und sie alle schrieben, er habe sich ausschließlich seinen Pflichten gewidmet. Er sprach niemals darüber, was ihn bedrückte, weinte nie, nicht einmal wegen Stonewall Jackson. Als der Krieg vorbei war, sprach er nie wieder davon.
Er hatte schwer für die Selbstbeherrschung bezahlt. Er war an einem Herzanfall gestorben, der typischen Krankheit beherrschter Männer, und er hatte bis zum Ende Alpträume vom Krieg geträumt. Als er im Sterben lag, bat er Hill, ihn zu besuchen, und dann, kurz vor dem Ende, sagte er: »Brechen Sie das Zelt ab.« Doch er hatte weder geweint noch sich an seine Familie geklammert, nicht einmal auf dem Sterbelager.
Und wenn es gar nicht einer von Lees Träumen gewesen war? Wenn Annie jetzt, wo die Barrieren zum Kollektiven Unbewußten niedergerissen waren, anfangen würde, anderer Leute Träume zu träumen?
Annie kam kurz vor zehn ebenfalls herüber. Sie sah aus, als hätte sie ebensowenig geschlafen wie ich. Sie trug eine Bluse mit hohem Kragen, der bis obenhin zugeknöpft war.
»Ich habe keine Ahnung, was dein Traum bedeutet«, sagte ich. Ich machte ein Eselsohr in die Seite, an der ich gerade war, und schloß das Buch. »Du bist sicher, daß er in Arlington spielte?«
»Ja. Ich stand auf der Veranda. Die Katze war da, und der Apfelbaum. Seine Blätter waren verfärbt. Es muß Herbst gewesen sein. Ich bin sicher, daß es Arlington war. Ich meine, es ist immer mein Haus, das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, aber es steht für andere Häuser.« Sie schüttelte den Kopf, als wäre das nicht der richtige Ausdruck. »Es fühlt sich wie andere Häuser an. Ich glaube, Lee muß die Bilder benutzen, die ich im Kopf habe, um daraus die Träume zu machen, und dann läßt er sie für andere Dinge stehen. Mit den Leuten ist es das gleiche. Ich glaube, er muß die Person ausgesucht haben, die der Person, die er kannte, am ähnlichsten ist…«
Die rothaarige Serviererin eilte herbei und nahm Annies Bestellung auf. Vorher entschuldigte sie sich dafür, sie nicht gleich gesehen und unsere beiden Kaffeetassen nicht bis zum Rand aufgefüllt zu haben.
»So wie bei der Serviererin?« sagte ich, als sie gegangen war.
»Ja. Es war die Serviererin, aber es
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