Lincolns Träume
mußte wissen, ob bei dieser Schlacht die gleichen Voraussetzungen für das Auftreten von Träumen gegeben waren.
Im Index gab es eine ganze Seite mit Verweisen auf Lee. Ich versuchte sie durchzugehen, indem ich eine Hand im Index hielt und mit einem Finger der anderen Hand die zweispaltig beschriebenen Seiten durchging, in der Hoffnung. Lees Name oder das Wort ›Schlaf‹ würde mir ins Auge springen. Da drinnen stand es; jedes Wort, das jemals über Gettysburg geschrieben worden war, mußte da drin sein, und das war eben das Problem. Es gab zu viel Material zu sichten, so wie der Braune des Veterinärs zu viele Symptome gehabt hatte. Lees Schlaflosigkeit war in der erdrückenden Masse der Fakten vergraben. Ich wuchtete das Buch auf sein Regal zurück und ging nach Annie sehen.
Sie war nicht im Magazin. Ich ging durch die Abteilungen und fand sie schließlich wieder in dem Raum mit den Biographien. Sie hatte einen der Vorhänge zurückgezogen und schaute aus dem Fenster in Richtung Rappahannock.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, woher die Träume kommen«, sagte ich.
Sie wandte sich um. Sie sah müde aus, als wäre sie die ganze Nacht, und nicht nur ein paar Stunden aufgewesen.
»Ich glaube, du hattest recht, als du gesagt hast, du würdest Lee schlafen helfen«, sagte ich. »Ich glaube, das könnte genau das sein, was du tust.«
Wir traten durch die überwölbten grünen Türen und gingen die Betontreppe hinunter. Es mußte geregnet haben, während wir drinnen gewesen waren, denn der Asphaltbelag des Bibliotheksparkplatzes war voller Pfützen, obwohl der Himmel so klar wie bei unserer Ankunft war. Es ging auf den Abend zu, und er verfärbte sich allmählich blauviolett. Die Luft roch nach Apfelblüten.
»Du meintest, er konnte nicht schlafen«, sagte ich. »Du hast recht gehabt. Offenbar litt er den ganzen Krieg hindurch an Schlaflosigkeit, und während der Schlachten schlief er überhaupt nicht.« Ich erklärte ihr meine Theorie auf dem Rückweg zum Gasthof, erzählte ihr von Dr. Stones Traumgewitter und dem Muster, das ich in ihren Träumen entdeckt hatte.
»Ich glaube immer noch, daß die Medikamente, die du eingenommen hast, mit alldem in irgendeiner Art von Beziehung stehen, aber ich habe noch nicht herausgefunden, in welcher«, sagte ich. »Du meintest, dein Hausarzt hätte dir Phenobarbital verschrieben. Ist dir irgendeine Veränderung an den Träumen aufgefallen, solange du es genommen hast?«
»Nein«, sagte Annie, in die Richtung des Gasthofs blickend, der zwei Blocks entfernt war. Die schwarze Katze kam heraus, um uns zu begrüßen, und stakste über den nassen Gehsteig.
»Wie lange hast du das Phenobarbital genommen?« fragte ich.
Die Katze miaute eine Begrüßung, die sich wie ein Vorwurf anhörte. Annie bückte sich, um sie hochzuheben. »Wußtest du, daß Willie andauernd nach dem Jungen von gegenüber verlangte, als er Lungenentzündung hatte?« sagte sie. »Er hieß Bud Taft. Er kam zu ihm und hielt Willies Hand und saß die ganze Zeit neben ihm, wußtest du das?«
»Nein, wußte ich nicht.«
»Eines Nachts, als Bud bei Willie war, kam Lincoln herein und sagte: ›Leg dich besser ins Bett, Bud.‹ Und Bud sagte: ›Wenn ich gehe, wird er nach mir rufen.‹«
Die Katze strampelte, um wieder heruntergelassen zu werden. Annie setzte sie wieder auf den Gehsteig, und sie stolzierte beleidigt davon. Einen halben Block entfernt setzte sie sich und begann ihre weißen Pfoten zu lecken.
»Du hast nicht zufällig herausgefunden, wo Willie Lincoln begraben wurde?«
»Ich dachte, er wurde in Arlington begraben.«
»Nein. Und ich weiß nicht, wo er begraben liegt.«
Annie sah die Katze an. »Vielleicht weiß das niemand«, sagte sie.
Als wir die Katze erreicht hatten, stand sie auf und begleitete uns den ganzen Weg bis zum Gasthof.
9
Lees Zuneigung zu Traveller war offensichtlich. »Wenn ich ein Künstler wäre wie du«, schrieb er an seine Cousine Markie Williams, »dann würde ich ein lebensechtes Bild von Traveller malen… Dieses Bild würde einen Dichter inspirieren, dessen Genie dann seinen Wert schildern und seine Standhaftigkeit gegenüber der Plackerei, dem Hunger, dem Durst, der Hitze und Kälte und die Gefahren und Leiden beschreiben würde, die er durchgemacht hat. Er könnte sich über seine Klugheit und Zuneigung und sein unveränderliches Befolgen jedes Wunsches auslassen, den sein Reiter äußert. Er könnte sich sogar seine Gedanken während der langen nächtlichen
Weitere Kostenlose Bücher