Lincolns Träume
nur um allgemeine Erinnerungen der Gattung, sondern um schlechthin alles.«
Er klang erregt, aufgewühlt. Vielleicht wurden Lincolns Träume wirklich eine Obsession für ihn. »Daten, Personen, Orte. Es ist alles da drinnen, aber man träumt immer nur Bruchstücke davon, und selbst dann muß etwas die Erinnerungen aktivieren. An diesem Punkt kommt Lincolns Akromegalie ins Spiel. Er meint, ein hormonales Ungleichgewicht könne das Kollektive Unbewußte aufschließen. Ich weiß, ich weiß, das hört sich wie der Wahrsager an, aber ich finde, da ist etwas dran.«
Ich löschte die Nachrichten und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Wenn ein hormonales Ungleichgewicht das Kollektive Unbewußte aufschließen konnte, dann traf das vielleicht auch für ein chemisches Ungleichgewicht zu, und hier kamen die Medikamente ins Spiel. Das würde erklären, warum die Träume plötzlich klarer geworden waren, nachdem Annie mit der Einnahme von Elavil begonnen hatte. Vielleicht hatte das Phenobarbital eine Art Wächter im Gehirn zu schwächen begonnen, und das Elavil hatte den Prozeß vollendet, so daß Lees Träume laut und deutlich durchkamen.
Wenn das stimmte, dann würden die Träume jetzt, wo Annie keine Medikamente mehr nahm, nach und nach an Stärke und Deutlichkeit nachlassen, und es wäre das beste, man wartete ihr Ende ab, bis sich das chemische Gleichgewicht in ihrem Gehirn wiederhergestellt hatte und die Träume verblaßten.
Ich machte die Lampen aus und ging wieder in Annies Zimmer hinüber, um mit ihr zusammen zu warten, und nach wenigen Minuten war ich im Sessel eingeschlafen. Als ich aufwachte, war es auf dem erleuchteten Zifferblatt meiner Uhr drei Uhr dreißig. Annie schlief noch immer friedlich, wenn sie auch den größten Teil der Decke abgeworfen hatte. Mit der verwirrten Logik des Halbwachen dachte ich, daß ich ihren Traum irgendwie verschlafen haben mußte, aber ihr Atmen war nicht das schwere Atmen, das sie nach den Träumen hatte, und mein nächster, eher noch konfuserer Gedanke war, daß ich die Träume einfach dadurch gestoppt hatte, daß ich ihr die Ursache erklärt hatte. Und ich schlief wieder ein.
Ich mußte das Schlagen der Tür gehört haben, denn als ich wieder erwachte, war ich fast schon auf halbem Weg zu ihr, und ich streifte das Bett kaum mit einem Blick, weil ich wußte, daß sie nicht mehr im Bett war. Ich hatte die Tür geöffnet und war auf dem Korridor, als ich die Außentür zufallen hörte. Die Außentür, die zur Feuerleiter führte.
Ich rannte zum Ende des Korridors und drückte die Klinke. Die Klinke gab nach, doch die Tür ging nicht auf. Annie mußte von außen dagegendrücken. Oder sie lag zerschmettert davor. »Annie!« rief ich durch die Tür, hielt dann aber inne. Man darf Schlafwandler nicht erschrecken, dachte ich. Wenn sie sich irgendwo in Gefahr befanden, auf einer Klippe oder so, könnten sie herabfallen. Ich rannte den Korridor zurück, über die Vordertreppe nach unten, durch die leere Eingangshalle zur Vordertür. Sie war verschlossen, gottlob von der Innenseite. Ich bekam sie auf und eilte um die Hausecke.
Annie stand in ihrem weißen Nachthemd ganz oben auf der Treppe. Im grauen, unbestimmten Licht der Dämmerung sah sie wie ein Gespenst aus. Die Katze saß auf der obersten Stufe und beobachtete sie.
»Annie«, sagte ich ruhig vom Fuß der Treppe aus, »du hast wieder einen Traum.«
Sie blickte zum Rappahannock hinüber. Nebel lag vor dem Saum der Bäume wie eine graue Decke. »Lebwohl, Katie«, sagte sie mit stockender Stimme. »Versprich mir, daß du wiederkommst.«
»Bleib da«, sagte ich, »ich komme.« Ich begann die Treppe hinaufzuklettern, eine Hand am Geländer und die andere ausgestreckt, damit ich sie auffangen konnte, wenn sie fiel. »Was träumst du, Annie?«
Sie hob halb ihre Hand in dem weitgeschnittenen weißen Ärmel, als wollte sie winken. »Ich wünschte, du müßtest nicht weggehen«, sagte sie, und dann barg sie ihr Gesicht in der Hand und begann zu weinen. Die Katze beobachtete sie ohne Neugier.
Ich betrat die Plattform und legte ihr meine Hand behutsam auf die Schulter. »Annie, kannst du aufwachen? Du hast einen schlechten Traum.«
Sie nahm ihre Hand vom Gesicht und wandte sich mir zu, mit glühendem Gesicht. »Keine Tränen in Arlington!« sagte sie munter, »keine Tränen«, und warf mir die Arme um den Hals und schluchzte.
»Annie, nicht weinen!« Ich legte meine Arme um sie. Schluchzer schüttelten sie. »Liebes, wein doch
Weitere Kostenlose Bücher