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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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war nicht wirklich sie.«
    »Du hast sie Katie genannt. Weißt du ihren Nachnamen, oder in welcher Beziehung sie zu Lee stand? War sie mit ihm befreundet, eine Verwandte?«
    »Nein, sie war befreundet mit…« Sie hob den Löffel auf und rührte den Kaffee um. »Mir ist gerade etwas zu dem Traum eingefallen«, sagte sie. »Das ist mir noch nie passiert.«
    »Was?«
    »Die Bedienung… Katie und ich, wir standen auf der Veranda und sagten uns Lebewohl, und ich wollte nicht, daß sie wegging. Wir weinten beide, und gleichzeitig lachten wir, weil keiner von uns ein Taschentuch hatte, und dann war ich auf einmal draußen beim Apfelbaum und ging auf das Haus zu. Du weißt doch, wie das in einem Traum ist, wenn du die eine Person bist, und dann bist du jemand anderer, aber gleichzeitig immer noch die erste Person? Genau so war es. Ich ging vom Obstgarten auf das Haus zu, und gleichzeitig war ich immer noch auf der Veranda und sagte Katie Lebewohl. Ich hatte mein weißes Nachthemd an, und sie trug ihre Servieruniform, und beide weinten wir, und ich betrat die Veranda und sagte: ›Keine Tränen in Arlington!‹, und lachte und gab Katie mein großes Taschentuch, damit sie sich die Nase putzen konnte.«
    »Weißt du, wer das Mädchen auf der Veranda war?« fragte ich. »Das Mädchen, das du warst?«
    »Nein. Aber als ich vom Obstgarten herkam, war ich Lee.«
    Nun, wenigstens hatte sich die Büchse der Pandora mit jedermanns Träumen noch nicht geöffnet, und sie träumte immer noch Lees Träume, wenn ich diesen auch nicht einordnen konnte. »Und dann wirft also dieses Mädchen, wer sie auch sein mag, seine Arme um Lees Hals und beginnt zu weinen?«
    »Nein.« Sie setzte die Kaffeetasse ab und starrte hinein. »Er… ich… Lee kam auf die Veranda«, sagte sie langsam, »und sagte: ›Keine Tränen‹, und plötzlich hatte ich das Gefühl zu wissen, wo die Träume herkommen.« Sie sah zu mir auf. »Ich war in diesem Moment in dem Traum ich selbst, nicht Lee oder das Mädchen in dem weißen Nachthemd. Und ich wußte, warum ich die Träume träumte.« Sie legte sich die Hand auf den Mund. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Der arme Mann«, sagte sie leise. »Der arme Mann.«
    Jedenfalls war es Annie gewesen, die ihre Arme um meinen Hals geschlungen hatte, wenn sie auch nicht mich umklammert hatte. »Weißt du es immer noch?« sagte ich und hätte sie am liebsten über den Tisch hinweg berührt und getröstet, wagte es aber nicht. »Erinnerst du dich daran, woher die Träume kommen?«
    Sie wischte sich mit der Papierserviette die Augen. »Nein. Ich wachte auf und entdeckte, daß ich mich an dich rangeschmissen hatte. Ich schämte mich so, daß ich geschlafwandelt war und daß mein Nachthemd halb offen war. Ich fürchtete, ich hätte dich zu küssen versucht oder so etwas.«
    Du hast nicht versucht, mich zu küssen, Annie, dachte ich. Ich war gar nicht dagewesen für dich. »Du hast nicht versucht, mich zu küssen«, sagte ich.
    »Und dann, als ich mich an den Traum zu erinnern versuchte, konnte ich nicht…« Ihre Stimme verlor sich wie schon in der vergangenen Nacht. Nach einer Minute schüttelte sie erneut den Kopf. »Jeff, ich glaube, wir sollten zurück nach Arlington fahren.«
    Das war nun wirklich das Allerletzte. »Wir können nicht zurückfahren«, sagte ich, vor Überraschung stotternd. »Richard ist dort.«
    »Ich weiß, aber als ich das letzte Mal da war, hat es geholfen.«
    Ihr geholfen, das Grauen von Antietam und Fredericksburg und Chancellorsville zu träumen, dachte ich. Ich konnte wieder das Entsetzen in ihrem Gesicht sehen, als sie dort im Schnee gestanden und zu den Toten auf der Wiese hinuntergesehen hatte. Ich wollte sie dem nicht wieder aussetzen, nicht einmal um das Geheimnis ihrer Träume zu lüften.
    »Wir bleiben nur noch ein paar Tage hier. Ich muß mich noch einmal mit dem Tierarzt treffen und in der Bücherei meine Recherchen für Broun abschließen.« Das waren nutzlose Ausflüchte. Ich konnte den Tierarzt offensichtlich auch von D.C. aus anrufen, und die einzigen Nachforschungen, die ich seit unserer Ankunft angestellt hatte, betrafen Lee, nicht Lincoln, doch Annie hatte mir nicht zugehört. Sie hatte sich vorgelehnt, als brauchte sie nur die Hand auszustrecken, um die Bedeutung ihrer Träume zu berühren.
    »Die Träume haben etwas mit Arlington zu tun«, sagte sie mit jener tonlosen Stimme, mit der sie ihre Träume nacherzählte. »Und dem blonden Soldaten. Und der Katze. Niemand weiß, was

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