Lincolns Träume
daran hingen. Es war Sommer. Es war so heiß wie in einer Backstube. Ich trug meinen grauen Mantel, und ich dachte andauernd, ich sollte ihn ausziehen, aber ich konnte es nicht, weil ich den vorbeikommenden Soldaten sagen mußte, sie sollten in den Wald gehen. Sie versuchten, über das Geländer auf die Vorderterrasse heraufzukommen, aber es war kein Geländer, es war mehr eine Art Wand, und sie schafften es nicht, und ich konnte wegen all des Rauchs nicht erkennen, warum sie nicht auf die Veranda heraufkamen, und dann kamen sie zurück in den Obstgarten, überall blutend. ›Das ist meine Schuld, das ist meine Schuld‹, sagte ich immer wieder zu allen, die vorbeikamen.«
Ich setzte mich neben sie aufs Bett und erklärte ihr, was der Traum bedeutete, obwohl ich längst nicht mehr daran glaubte, daß ich ihr mit meinen Erklärungen mehr half, als Richard ihr mit seinen Theorien und Schlaftabletten geholfen hatte.
Sie hatte zu mir gesagt, meine Interpretationen ließen sie die Träume leichter ertragen, doch ich deutete sie nun schon eine Woche, und die Träume waren kontinuierlich schlimmer geworden. Mit ihr nach Arlington zurückzufahren würde auch nicht helfen, und ich hatte nicht die Absicht, sie wieder in Richards Reichweite zu bringen, aber sie hier in Fredericksburg zu lassen, war nicht viel besser. Früher oder später würde sie darauf bestehen, das Schlachtfeld zu besuchen. Um was zu finden? Einen Haufen neuer Träume? Spotsylvania? Petersburg? Wilderness, wo die Verwundeten bei lebendigem Leib verbrannt waren? Es gab eine ganze Reihe wundervoller Möglichkeiten. Der Krieg war erst halb vorüber.
»Versprich mir, daß du mich nicht davon abhalten wirst, die Träume zu träumen«, hatte sie am ersten Tag in Fredericksburg zu mir gesagt. Und ich hatte es versprochen. Lee hatte auch Versprechungen gemacht. »Ich hätte keinen anderen Weg einschlagen können«, hatte er an Markie Williams geschrieben. Aber als er sechzehnjährige Jungen wie Maisstauden umgemäht sah, als er sie barfuß und blutend und zu Tode erschöpft sah, hatte er da nie daran gedacht, sein Versprechen zu brechen?
Ich fühlte mich auf einmal sogar zum Stehen zu müde. Ich ging wieder auf mein Zimmer, legte die Druckfahnen vom Bett auf den Boden und legte mich hin.
Ich schlief bis um halb sieben. Halb vier in Kalifornien. Zu früh, um Broun anzurufen. Ich ging zum Coffeeshop hinüber und las Fahnen und ließ die rothaarige Serviererin meine Kaffeetasse auffüllen: wann immer sie halb leer war, bis der Kaffee eine gleichförmige, ungenießbare Temperatur angenommen hatte.
D. H. Hills Pferd wurden die Vorderbeine abgeschossen. Ben fand sein Regiment, und sie marschierten nach Süden und Osten Richtung Sharpsburg. Lee versuchte, durch das Teleskop seines Leutnants hindurchzuschauen, schaffte es aber nicht, weil seine Hände bandagiert waren. A. P. Hill kam in einem roten Wollhemd herbeigeritten und rettete den Tag, und Ben wurde in den Fuß getroffen. Um neun rief ich Brouns Hotel vom Münztelefon des Coffeeshops aus an. Er war abgereist.
Ich ging aufs Zimmer zurück und betrat es durch meine Tür. Annie schlief und umklammerte das Kopfkissen, so wie sie den Bettpfosten umklammert hatte. Ich rief den Anrufbeantworter an. »Du wirst dich vielleicht fragen, wo ich hingefahren bin«, sagte Broun. »Ich bin in San Diego. Im Hotel Westgate. Ich bin hier, um mich mit einem Endokrinologen zu treffen. Der Psychiater hat mich darauf gebracht. Er ist ein Experte für hormonelle Ungleichgewichte im Gehirn. Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst, mein Sohn.«
»Ich versuche es«, sagte ich. Ich rief das Westgate in San Diego an. Eine aufgezeichnete Stimme fragte mich, wen ich zu sprechen wünschte, und als ich es ihr gesagt hatte, rief sie in Brouns Zimmer an. Er war nicht da.
Ich fragte mich, wo er wohl steckte. Er konnte sich gerade mit dem Endokrinologen treffen oder ganz woanders sein, und seine freundliche, rauhe Stimme würde immer noch sagen: »Ich bin in San Diego im Hotel Westgate.« Das Flugzeug nach San Diego konnte abgestürzt sein, und es hätte immer noch keinen Unterschied ausgemacht. Diese Stimme würde immer noch zu mir gesprochen haben. Ich fragte mich, ob es nicht das war, was hier vor sich ging, ob die Träume nicht eine Art aufgezeichneter Nachricht waren, die Lee hinterlassen hatte, und er sich überhaupt nicht hier befand.
Ich ging hinaus und holte den Wagen. Nehmen Sie den Lafayette Boulevard bis zur Sunken Road. Sie
Weitere Kostenlose Bücher