Lincolns Träume
Informationstisch und leerte gerade einen metallenen Papierkorb in einen Mülleimer aus. »Ich habe die Nummer für Sie herausgesucht«, sagte er, seine Hände aneinander reibend. Er schlug ein dickes, in Leder gebundenes Buch an einer Seite auf, die er mit einem Stück Papier markiert hatte. »Sie sind alphabetisch nach dem Umbettungsteam geordnet.«
Er drehte das Buch für mich um, und ich überlas die engbedruckte Seite. »Gefunden Schlachtfeld Wilderness. Drei Tote. Gefunden Charis Farm, in Maisfeld.
Zwei Schädel. Gefunden Schlachtfeld Chancellorsville. Zwei Tote.«
»Hier steht es«, sagte der Ranger und verdrehte den Oberkörper, damit er die Zahlen lesen konnte. »Zwei-dreiundvierzig.« Er zeigte auf eine Zeile ziemlich weit unten auf der Seite. »Gefunden Laceys Farm, im Obstgarten. Vier Schädel und Knochen.«
Gefunden in einem Obstgarten. Vier Schädel und Knochen. »Es hat etwas mit dem Soldaten zu tun, der seinen Namen am Ärmel befestigt hat«, hatte Annie gesagt, als sie die Ursache der Träume herauszufinden versuchte. Aber hier ging es nicht um einen einzelnen blondhaarigen Jungen, dessen Name so ausgeblichen war, daß man ihn nicht mehr lesen konnte. Es waren so viele, daß man Jahre gebraucht hatte, um all die in Feldern und unter Apfelbäumen begrabenen Leichen auszugraben und sie hierher zu bringen, so viele, daß man sie nicht hatte einzeln begraben können, sondern nur zu mehreren unter einer einzigen Nummer.
»Sind Ihnen irgendwelche sehenswerten Touristenattraktionen außerhalb von Fredericksburg bekannt?« fragte ich. »Ein Ort, den wir besichtigen könnten? Sagen wir, im Umkreis von hundert Meilen.«
Er zog eine Broschüre unter dem Tisch hervor. »Das Schlachtfeld von Wilderness ist nur…«
»Nicht Wilderness. Nichts, was mit dem Bürgerkrieg zu tun hat.«
Er griff mit einem verwirrten Gesichtsausdruck erneut unter den Tisch und brachte eine Straßenkarte von Virginia zum Vorschein. »Nun, da gibt es natürlich Williamsburg. Bis dahin sind es etwa hundert Meilen.« Er faltete die Karte auf dem Tisch auseinander. »Der Shenandoah Nationalpark ist hundertzwanzig Meilen entfernt.« Er zeigte darauf. »Es gibt dort eine Menge wunderbarer Aussichtsplätze und Wanderwege. Ich weiß allerdings nicht, wie das Wetter im Westen ist. Es soll sich eine große Schlechtwetterfront nähern.«
Ich beugte mich über die Karte. Es führte kein Weg aus Fredericksburg heraus. Im Süden blockierte uns Sayler’s Creek den Weg nach Richmond; im Norden würden wir an Antietam vorbeikommen. Chancellorsville und Wilderness lagen zwischen uns und Shenandoah an der US 3. Aber wenn wir nach Süden führen, nicht so weit, daß wir nach Spotsylvania hineinkämen, und wenn wir uns an die Nebenstraßen hielten, bis wir westlich von Culpepper waren, wo die Schlacht um Cedar Mountain ausgetragen worden war, dann könnten wir es vielleicht schaffen.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« fragte der Ranger eifrig. »Um elf gibt es einen Rundgang mit Führung.«
»Nein, danke.« Ich faltete die Karte zusammen. »Wie viele unbekannte Soldaten liegen hier insgesamt?«
»Hier, meinen Sie? Im Fredericksburg Nationalfriedhof sind zwölftausendsiebenhundertundsiebzig begraben«, sagt er, als wäre das ein Anlaß, darauf stolz zu sein. »Es sind natürlich alles Unionssoldaten.«
»Wie viele insgesamt? Aus dem ganzen Krieg?«
»Dem ganzen Krieg? Oh, ich habe keine Ahnung. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt…« Er holte einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und begann auf die Schlachtfeld-Broschüre zu schreiben. »Also. Hier haben wir zwölftausendsiebenhundertundsiebzig, und elfhundertsiebzig unbekannte Konföderierte liegen auf dem Konföderiertenfriedhof, und dann noch Spotsylvania.« Er notierte eine Zahl, dann griff er unter den Tisch und holte einen weiteren Stapel Broschüren hervor. »Die Gedenkstätte des unbekannten Soldaten von Arlington hat zweitausendeinhundertundelf…« Er blätterte die Broschüren durch, drehte eine um. »Bei Petersburg liegen viertausendeinhundertundzehn. Gettysburg hat neunhundertneunundsiebzig Gefallene im eigentlichen Friedhof, aber natürlich sind auf dem Schlachtfeld noch mehr Gräber.
Die meisten Gefallenen der Konföderation wurden nach dem Krieg nach Richmond, Savannah und Charleston gebracht und dort in Massengräbern beigesetzt.«
Er blätterte weiter durch die Broschüren. »Es hing natürlich alles davon ab, wer die Schlacht
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