Lincolns Träume
nicht gekonnt. Ein Kavallerist beugte sich vor, um ihm zu helfen, aber ehe er ihn erreicht hatte, war Lee schon von alleine heruntergekommen und stand an Traveller gelehnt. »Zu dumm!« sagte er. »Zu dumm! Wirklich zu dumm!«
ANNIE SCHLIEF UNRUHIG den ganzen Nachmittag durch; sie träumte nicht, fand aber auch keine Erholung. Dann stand sie auf, aß aber kaum etwas, und anschließend konnte sie nicht wieder einschlafen. Sie ging im Zimmer auf und ab, wie ein eingesperrtes Tier.
»Möchtest du Druckfahnen lesen?« fragte ich, weil ich mich daran erinnerte, daß sie gesagt hatte, die Fahnen hülfen ihr, sich von den Träumen abzulenken, doch sie schüttelte den Kopf und setzte ihre Wanderung fort, wobei sie ab und zu anhielt, um sich ans Fenster zu lehnen. Sie starrte blicklos auf ihre Füße. Ihre Augen waren vor Erschöpfung umschattet, und sie hatte kaum Farbe im Gesicht.
»Glaubst du, die Bücherei ist heute abend geöffnet?« fragte sie.
»Es ist schon fast sechs«, sagte ich. »Wir könnten uns einen Film ansehen. Ich könnte eine Zeitung besorgen, und wir sehen mal, was es gibt.«
»Nein, ich…« Sie ging zum Bett hinüber und legte sich hin. Nach einer Weile sagte sie schläfrig: »Wann macht sie morgen früh auf?«
»Die Bibliothek? Um neun«, sagte ich. Ich versuchte nicht, noch mehr über Annie Lee herauszufinden. Es ergab keinen Sinn. Ich hatte gedacht, daß Annie erfreut darüber sein würde, daß wir endlich die Ursache ihrer Träume herausgefunden hatten, doch sie hatte den Eindruck gemacht, als wäre es ihr gleichgültig. Und die Information hatte ihr nicht geholfen zu schlafen.
Als mir Freeman zu langweilig wurde, nahm ich mir die Fahnen vor. Ben und Malachi stießen auf einen Trupp eigener Artillerie und gingen dahinter in Deckung. Daran erinnerte ich mich nicht mehr. In der letzten Version hatte es geheißen, sie wären getrennt worden, und Ben wäre bei einer Ambulanz gelandet, aber in dieser Fassung waren sie eindeutig auf der anderen Seite des Tals, in dem sie sich eigentlich befinden sollten. Ich fragte mich, ob das die Szene war, die Broun an dem Nachmittag geschrieben hatte, als ich ihm vorgeworfen hatte, er sei von dem Lincolnbuch besessen.
»Sollten wir nicht jemanden fragen, wo unser Regiment ist?« fragte Ben.
Malachi deutete über das Maisfeld zu einer Straße und einem Zaun voller Männer zurück. Es war nicht besonders verraucht dort unten, und Ben konnte ihre Bajonette in der Sonne funkeln sehen. »Da drüben sind’se, denk ich doch, und wie kommste eigentlich drauf, wir könnten’s schaffen bis dahin? Wir sind getrennt worden, und so Solls auch bleiben.«
Malachi hatte die ganze Zeit über geschrien, aber zuletzt konnte ihm Ben die Worte nur noch von den Lippen ablesen. Das Krachen der Geschütze wurde mit jeder Minute lauter, und die Abschüsse und die explodierenden Granaten hatten aufgehört, verschiedene Geräusche zu sein, und brüllten wie unaufhörlicher Donner. Ben konnte nur am Rauch erkennen, wann die Kanonen feuerten.
»Los, komm!« sagte Malachi. Ben hörte auch das nicht, doch sie begannen mit gebeugten Köpfen zu rennen, als wollten sie sie vor dem Lärm schützen.
Sie liefen genau in eine der Kanonen hinein. Ihr Rohr war geborsten, und Männer lagen auf dem Rücken im Kreis darum herum. Ein Mann mit einem Strohhut und ein Junge versuchten die Pferde vom Munitionswagen loszumachen. Ein Leutnant kam herbeigeritten und rief: »Bringt die Pferde zurück!«, und Ben wunderte sich, daß der Leutnant es schaffte, sich verständlich zu machen. »Ihr beide da! Helft ihnen!« sagte er und deutete mit seinem Säbel auf den Jungen, der mit den Zügeln kämpfte.
Der Mann mit dem Strohhut hatte das Geschirr abgeschnallt, doch die Pferde hatten sich darin verheddert. Einer der Sattelgurte hatte sich um das Hinterbein des vorderen Pferdes gewickelt. Je stärker er zog, desto enger zog er sich zusammen.
Ben packte die nachschleifenden Zügel des Pferdes und versuchte es zu beruhigen. Malachi stellte sich neben das Pferd und versuchte, es gegen den Wagen zurückzuschieben. Der Mann mit dem Strohhut hatte sich gebückt, um den Gurt durchzuschneiden. Das Pferd wieherte und stieg hoch.
»Ich zieh’ dir das Fell ab, du blödes Biest«, schrie Malachi das Pferd an. »Willst du, daß es dich erwischt?«
Ben brachte sich vor den Hufen in Sicherheit und griff nach den Zügeln. »Halt still, verdammt noch mal!« rief Malachi.
Es gab einen fürchterlichen Donner. Es
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