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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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gedroht wurde, ihn als Dank für seine Bemühungen als Plünderer zu erschießen? Broun war an jenem Nachmittag wütend auf mich gewesen, aber er hatte sich auch Sorgen gemacht. Er hatte mich damals gefragt, ob ich bei Richard in Behandlung wäre, ob ich irgendwelche Medikamente nähme. Vielleicht hatte er dieses Kapitel geschrieben, weil er mir zeigen wollte, daß er um mich besorgt war, daß er nur zu helfen versuchte.
    Ich sah auf meine Uhr. Es war halb zwölf, halb neun in Kalifornien, und der Himmel allein wußte, wie spät es in Virginia oder Pennsylvania war, oder wo auch immer Lee sich heute nacht befinden mochte. Annie seufzte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Ich legte die Kette vor das Schloß und schob den Sessel zwischen die Tür und das Bett. Ich stand dort eine Weile, beobachtete ihren Schlaf und wünschte, ich könnte ihr helfen. Dann las ich weiter.
    Ben schleppte den ganzen Nachmittag über verwundete Soldaten vom Schlachtfeld weg. Bens Bruder, der auf der Seite der Union kämpfte, schaffte es aus dem Ostwald heraus und weg von der tiefer gelegenen Straße, [ii] ehe er in die Seite getroffen wurde. Er lag eine Weile regungslos in der heißen Sonne, dann kroch er in eine Heumiete und verlor das Bewußtsein. Gegen halb drei setzte eine Artilleriegranate die Miete in Brand, und er verbrannte bei lebendigem Leib.
    »Sie können diese Stellung unmöglich halten«, sagte Annie. Sie setzte sich auf und schwang ihre Füße über die Bettkante. »Ich habe ihm doch gesagt…« Sie stand auf.
    Ich schaute zur Tür, obwohl ich gerade erst die Kette vorgelegt hatte, und machte vorsichtshalber einen Schritt darauf zu, doch sie setzte sich auf die Bettkante und legte ihre Arme um den hölzernen Pfosten am Kopfende des Bettes. »Meine Schuld«, sagte sie so leise, daß es beinahe nur ein Seufzer war.
    Ich versuchte mich neben sie zu setzen, doch sie drehte sich weg, deshalb setzte ich mich in den grünen Sessel und beugte mich, die Hände zwischen den Knien, vor. »Annie!«
    »Ich weiß! Ich weiß!« sagte sie bitter. Sie stand wieder auf, einen Arm immer noch um den Bettpfosten geschlungen. »Wo ist er?« fragte sie und wandte sich um, als wollte sie jemand hinter sich ansehen. »Er sollte Hood sagen, daß er seine Division einsetzen soll.«
    Sie machte einen steifen, schlafwandlerischen Schritt auf die Tür zu meinem Zimmer zu. »Versuchen Sie, Ihre Männer am Wald neu zu formieren«, sagte sie freundlich, als spräche sie zu einem Kind.
    »Annie?« sagte ich ruhig, bewegte mich zwischen sie und die Tür und wünschte, ich hätte auch die Außentür meines Zimmers mit der Kette gesichert. »Ich weiß, wo wir sind. Bei Pickett’s Charge. Longstreet hat keine Verstärkung geschickt.«
    Sie blickte mich direkt an. »Verlieren Sie nicht den Mut«, sagte sie. Es lag keinerlei Emotion in ihrer Stimme, doch ihr Gesichtsausdruck war der von Arlington, als sie vom Hügel auf die Toten auf der Wiese herabgeschaut hatte. »Diesmal war es meine Schuld. Formieren Sie sich neu, sobald Sie die Deckung erreicht haben.«
    Es ging eine halbe Stunde so weiter. Dann und wann griff sie nach unten, wobei ihre Hand beinahe den Boden berührte, und ich dachte, sie helfe einem gefallenen Soldaten wieder auf. Dann fiel mir ein, daß Lee auf einem Pferd gesessen hatte. Er war auf Traveller von seinem Befehlsposten zu den Überlebenden hinuntergeritten, um sie in die Sicherheit des Waldes zu schicken. Er mußte hinabreichen, um seine Hand einem gemeinen Soldaten auf die Schulter zu legen, um seinen Männern, die sich an ihm vorbeischleppten, eine kleine Ermutigung zukommen zu lassen. »Meine Schuld«, sagte Annie leise, immer wieder. »Meine Schuld.«
    Und ich hatte gewollt, daß sie von Gettysburg träumte, um die Richtigkeit meiner Theorie zu beweisen. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte ich.
    Ich nahm vorsichtig ihren Arm und führte sie zum Bett zurück, und sie setzte sich hin und legte ihre Arme wieder um den Bettpfosten. »Zu dumm«, sagte sie verzweifelt. »Wirklich zu dumm.«
    Sie wollte den Pfosten nicht loslassen, selbst dann nicht, als sie aufgewacht war. »Ich war unter dem Apfelbaum und habe das Haus angesehen«, sagte sie gefaßt, umklammerte aber immer noch den Bettpfosten. »Bloß war es diesmal kein Obstgarten. Es war ein Wald.«
    »Das Wäldchen«, sagte ich. »Bei Gettysburg.«
    »Ich wußte, daß es in Wirklichkeit kein Obstgarten war und daß es keine richtigen Apfelbäume waren, obwohl grüne Äpfel

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