Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
Vom Netzwerk:
Gefallene der Schlachten von Fredericksburg, Spotsylvania und Wilderness begraben. Als das Schlachtfeld in einen Nationalfriedhof umgewandelt wurde, ließ man die Toten exhumieren und sie hier neu begraben. Die Nummern geben an, wo die Toten gefunden wurden.«
    Ich holte den Zettel hervor, auf dem ich die Nummern notiert hatte, und faltete ihn auseinander. »Können Sie mir diese hier erklären?« sagte ich.
    »Zweihundertdreiundvierzig, und darunter ist eine Linie und die Zahl vier.«
    »Zweihundertdreiundvierzig ist die Registriernummer. Vier bedeutet die Anzahl der Toten.«
    »Die Anzahl der Toten?«
    »Die im ursprünglichen Grab gefunden wurden. Oder die Körperteile. Es war manchmal schwer zu sagen, um wie viele Soldaten es sich in Wirklichkeit handelte. Einige der Leichen waren schon seit drei Jahren begraben gewesen.«
    So wie Willie Lincoln, dachte ich unmotiviert. Vielleicht war er irgendwo auf dem Feld begraben gewesen, und dann hatte ihn ein Umbettungsteam ausgegraben und mit der Leiche seines Vaters zusammen nach Springfield zurückgeschickt.
    »Bei Chancellorsville hat man ein Grab gefunden, das voller Arme und Beine war. Man nahm an, daß sich in der Nähe ein Feldlazarett befunden haben mußte, in dem man Amputationen durchgeführt hat. Und häufig waren Pferde zusammen mit den Leichen begraben.«
    »Wie ist man dann auf diese Zahlen gekommen?«
    »Schädel. Es war eine schauerliche Arbeit«, sagte er vergnügt. »Wenn Sie Lust haben, mit zum Besucherzentrum hinunterzukommen, könnte ich die Nummern für Sie nachschlagen.«
    »Nein«, sagte ich. »Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile hier oben.«
    »Es ist schön hier oben, nicht wahr?« sagte er. Er tippte sich an den breitkrempigen Hut und ging über den gemauerten Pfad zurück und den Hügel hinunter, wobei er einmal anhielt, um neben einem der Gräber ein Stück Papier aufzuheben.
    Es war schön hier oben. Die weit ausgedehnte Stadt mit ihren blauen und grauen Dächern und blühenden Bäumen verbarg die Ebene, und unter mir, wo die Infanterie von den Gewehrschützen hinter der Steinmauer niedergemäht worden war, war ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Souvenirläden, in denen es Postkarten gab und Flaggen der Konföderation. Man sah nichts mehr von den toten Pferden, die auf dem Feld herumgelegen hatten, und von den verwundeten Soldaten, die hinter ihnen Deckung gesucht hatten, weil es keine andere Deckung gab. »Es ist gut, daß der Krieg so schrecklich ist«, hatte Lee bei dem Anblick gesagt, »sonst würden wir ihn zu sehr mögen.«
    Zu sehr mögen? Ging es bei den Träumen vielleicht darum? Hatte Lee den Krieg so sehr gemocht, daß er nicht davon lassen konnte, nicht einmal in seinen Träumen? Nein, natürlich nicht. Er hatte das an dem Morgen gesagt, als die Ebene voller Flaggen, Hornsignale und Sonnenlicht war, das die Läufe der Springfield-Gewehre glitzern ließ.
    In der folgenden Nacht hatten die Verwundeten dort gelegen und waren erfroren, wo sich jetzt die Souvenirläden und das Besucherzentrum befanden, und Lees barfüßige, dürftig bekleidete Soldaten waren vom Hügel heruntergekommen und über die Steinmauer geklettert, die schwarz von Blut gewesen war und sich eiskalt angefühlt haben mußte. Selbstverständlich hatte man eine neue Mauer errichten müssen. Die Konföderierten waren den Hügel heruntergekommen und hatten ihre Uniformen an sich genommen, mit den am Ärmel befestigten Namen, ihre Stiefel, mit den Namenszetteln in den Fußkappen. Und niemand, nicht einmal Lee, hatte in diesem Augenblick den Krieg mögen können.
    Ich durfte Annie unter keinen Umständen hier herauskommen lassen. Sie war bereits in ihren Träumen hier gewesen, hatte die Leichen auf der kalten Erde liegen und das Nordlicht seinen blutigen Tanz am Himmel vollführen sehen, aber sie hatte nicht die Reihen der Granitplatten gesehen, und sie hatte die Ehrenliste nicht gesehen oder gehört, wie der Ranger vergnügt und heiter die Eintragungen vorlas, ohne sich des Grauens, das in seinen Worten enthalten war, bewußt zu sein. Häufig hatte man Pferde mit Gefallenen zusammen begraben.
    Vielleicht konnte ich nicht die Träume stoppen, doch ich konnte sie vor dem hier bewahren. Und das bedeutete, sie aus Fredericksburg wegzubringen, wo wohlmeinende Serviererinnen und Apotheker und Taxifahrer in ihrem Eifer, uns hier herauszulocken, auf Drugstoretheken Lagepläne malten. Ich ging den Hügel hinunter und ins Besucherzentrum.
    Der Ranger war hinter dem

Weitere Kostenlose Bücher