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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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gewonnen hat. Beim Verlierer blieben bei jeder Schlacht mehr als achtzig Prozent der Gefallenen unidentifiziert.« Er begann die Zahlen zu addieren. »Ich würde sagen, zwischen einhundertzwanzigtausend und zweihundertfünfzigtausend nicht identifizierte Gefallene insgesamt, aber wenn Sie eine genauere Zahl haben möchten…«
    »Machen Sie sich keine Umstände«, sagte ich, ging zum Wagen und fuhr Annie abholen.

 
11
     
Traveller enttäuschte Lee nur ein einziges Mal. Das war auf dem Marsch nach Maryland, kurz vor Antietam. Lee saß auf einem gefällten Baumstamm und hielt Travellers Zügel locker in der Hand. Es regnete, und Lee trug einen Poncho und einen Übermantel aus Gummi. »Yankee-Kavallerie!« rief jemand, und Traveller scheute. Lee erhob sich, wollte sein Zaumzeug fassen und stolperte dabei über den Poncho. Er fing sich mit den Händen ab. Eins seiner Handgelenke war gebrochen, und das andere war ernsthaft verstaucht. Bei Antietam waren seine Hände immer noch geschient.
     
    ANNIE WAR WEDER IM GASTHOF noch im Coffeeshop. Die rothaarige Serviererin sagte, immer noch mißbilligend, sie habe ihr gesagt, sie solle mir ausrichten, sie wäre in der Bücherei, und ich bedankte mich bei ihr mit so offensichtlicher Erleichterung, daß sie wahrscheinlich überzeugt davon war, daß wir eine Art Streit unter Liebenden gehabt hatten.
    Annie war in der Nachschlageabteilung, die L-Lexika um sich herum im Halbkreis ausgebreitet, die meisten bei Lincolns abgezehrtem Gesicht aufgeschlagen, doch sie sah sie nicht an. Sie starrte blicklos auf die orangefarben angemalten Bücherschränke ihr gegenüber und dachte angestrengt über etwas nach. Ich hoffte, dieses Etwas wäre nicht Gettysburg.
    »Guten Morgen«, sagte ich und hörte mich dabei an wie der geistlos-vergnügte Ranger. »Ich hätte nicht gedacht, daß du schon so früh auf bist.«
    Sie machte reflexhaft eine beschützende Geste gegen das Buch, das vor ihr lag, und dann klappte sie es zu, bevor ich erkennen konnte, auf welcher Seite es aufgeschlagen war.
    »Ich will rausfahren, den Tierarzt besuchen«, sagte ich. »Vielleicht hat er etwas von seiner Schwester erfahren.«
    »In Ordnung.« Sie klappte die anderen Bücher zu und stapelte sie auf dem vor ihr liegenden Buch. »Laß mich die hier gerade noch wegbringen.«
    »Ich helfe dir«, sagte ich und packte die drei untersten Bücher, ehe sie die anderen darüberstapeln konnte. Die oberen beiden waren Lexika. Das untere war das Drogenkompendium, das ich benutzt hatte, um mich über Thorazin zu informieren. »Was hast du da drin nachgeschlagen?« fragte ich. »Geht es dir gut? Du hast doch keine Nachwirkungen vom Thorazin, oder?«
    »Mir geht’s prima«, sagte sie und wandte sich ab, um die anderen Lexika in die Regale zurückzustellen. »Ich wollte wissen, ob das Thorazin für meine Kopfschmerzen verantwortlich ist, aber das ist es nicht. Warst du heute morgen am Schlachtfeld?«
    »Ja«, sagte ich und versuchte, meine Stimme so beiläufig wie ihre klingen zu lassen. »Es gibt eine Handbibliothek da draußen. Deshalb ist die Bücherei hier so schlecht mit Bürgerkriegssachen bestückt. Fertig? Vielleicht können wir den Tierarzt abfangen, ehe er seine Hausbesuche macht.«
    Wir fuhren hinaus und trafen den Veterinär zu Hause an. Er war wieder im Stall und fütterte gerade einige Pferde, die er in Pflege genommen hatte. »Es tut mir leid, aber ich habe keine neuen Informationen für Sie«, sagte er und gabelte eine Portion Heu in eine der Boxen. »Ich konnte meine Schwester noch nicht erreichen, aber ich fahre morgen nach Richmond zu einem Kongreß über Pferdekrankheiten, und ich müßte es eigentlich schaffen, anschließend bei ihr vorbeizuschauen.«
    Ich hatte fest damit gerechnet, daß er bereits mit ihr gesprochen hatte, damit ich zu Annie sagen konnte: »Nun, wir haben erledigt, weswegen wir hergekommen sind. Es macht keinen Sinn, weiter hier herumzuhängen.«
    »Wann werden Sie zurück sein?« fragte ich.
    Er hielt inne und stützte sich auf die Heugabel. »Der Kongreß dauert das ganze Wochenende. Vielleicht komme ich Montag zurück. Sind Sie dann noch da?«
    »Falls nicht, rufe ich Sie am Montag an.« Annie sah mich an. »Wir werden noch im Gasthof sein. Sie haben doch unsere Nummer, nicht wahr?«
    »Yeah. Tut mir leid, daß Sie den ganzen Weg für nichts und wieder nichts herausgekommen sind.« Er füllte aus einem Schlauch Wasser in eine Wanne. »Ich habe ein paar Sachen meines Vaters über Echnaton

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