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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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ist mit Die Bürde der Pflicht?« fragte sie.
    »Die Fahnen? Broun und ich können sie fertigmachen, wenn er aus Kalifornien zurückkommt.«
    »Ich finde, wir sollten sie fertigmachen«, sagte sie. »Ich wüßte gern, wie es ausgeht.«
    »Gut. Wir machen sie fertig, wenn wir zurück sind.«
    Die Straße, auf der wir fuhren, verlief in nördlicher Richtung und mündete auf einen vierspurigen Highway. Ich hoffte, ich hatte es nicht wieder fertiggebracht, auf die Interstate zu fahren. Hatte ich nicht. Es war die US 3, und die Orte waren in beiden Richtungen mit Pfeilen ausgeschildert. Wilderness lag in dieser Richtung, Chancellorsville in der anderen. Sie haben die Wahl.
    »Vielleicht ist das eine gute Idee«, sagte Annie und sah nach den Schildern. »Von allem wegzukommen.«
    »Großartig«, sagte ich. Ich überquerte den Highway und bog an der nächsten Kreuzung Richtung Westen ab. »Wir werden frische Luft atmen und uns an Brathähnchen laben und etwas Spazierengehen. Es gibt dort jede Menge Spazierwege.«
    »Und keine Schlachtfelder«, sagte sie leise.
    »Weißt du, was es außerdem noch in der Gegend gibt? Monticello. Thomas Jeffersons Plantage. Wir könnten in Luray übernachten und morgen dann den Skyline Drive runterfahren und uns Monticello ansehen.«
    Wir konnten nach Monticello hinunterfahren, und während wir dort wären, käme die Schlechtwetterfront, und wir würden ihr nach Süden hin ausweichen müssen, nach North Carolina und dann Georgia und schließlich nach Florida, wo der Krieg nicht gewesen war.
    »Monticello ist großartig«, sagte ich und bog wieder ab, diesmal auf etwas, das wie eine asphaltierte Straße aussah. Nach einer Meile wurde der Asphalt von Schotter abgelöst. »Jefferson hat diese große Uhr aus Kanonenkugeln gebaut. Und Vorhänge gemacht«, fügte ich hastig hinzu. »Jefferson nähte seine Vorhänge selbst.« Der Schotter ging in Erde über, und die Fahrrinnen waren so tief eingegraben, daß ich mit dem Wagen aufsetzen würde, wenn ich nicht wendete. Ich legte den Rückwärtsgang ein.
    Es gab kaum Platz auf dem engen Weg, um zu wenden. Auf einer Seite wuchs am Rand eines Grabens kniehohes Unkraut, und auf der anderen Seite war eine dünne Ansammlung von Pinien, die man fast bis an den Rand der Straße gepflanzt hatte. Ich legte meinen Arm hinter Annie auf die Lehne des Vordersitzes und begann vorsichtig zurückzufahren, damit ich nicht im Graben landete.
    »Die Träume enthalten alle Botschaften«, sagte Annie.
    »Was?« sagte ich, wütend darüber, daß irgend etwas an diesem Feldweg sie wieder an die Träume erinnert hatte. Ich konnte sie ebensowenig vom Bürgerkrieg ablenken, wie ich sie aus dem gräberübersäten Umkreis von Fredericksburg herausbrachte. Ich legte wieder den ersten Gang ein und würgte den Motor ab.
    »Ich habe gerade daran gedacht, was Dr. Barton über die Ägypter gesagt hat. Er sagte, die Ägypter hätten Träume für Botschaften der Toten gehalten.«
    »Ich dachte, wir wollten nicht mehr über die Träume sprechen«, sagte ich. Ich versuchte den Motor wieder anzulassen, und er soff ab.
    »Wußtest du, daß Abraham Lincoln von Willie träumte, nachdem er gestorben war?« sagte sie. Ich betätigte wieder die Zündung, doch Annie streckte die Hand aus, um mich daran zu hindern. »Willie ist ihm im Traum erschienen, um ihn zu trösten, steht in dem Buch. Und er war tot, Jeff. Ich glaube, die Träume sind Botschaften der Toten.«
    Ich nahm meine Hand vom Zündschlüssel. Also war es doch nicht die abgelegene Straße gewesen und auch nicht der Westwald.
    »Ich glaube, du hattest recht, als du sagtest, Lee habe die Träume während des Bürgerkriegs geträumt und irgendwie erreichten sie mich durch die Zeit hinweg, aber gestern, als ich die Postkarte mit seinem Grab in Lexington gesehen habe, da wußte ich, daß er tot war.« Sie sah mich ernst an, ihre Hand immer noch auf meinem Arm. »Richard hat mir gesagt, Träume würden einem helfen, seine Erlebnisse zu verarbeiten, sie wären eine Art von Selbstheilungsmechanismus, der einem hilft, über den Schmerz hinwegzukommen und sich mit einem Schuldgefühl zu arrangieren, dem man sich anders nicht stellen kann, nur wenn die Schuld zu groß ist, kämen die Träume damit nicht zurecht. Das wäre bei mir der Fall, sagte er, aber was ist, wenn man soviel Schuld und Kummer auf sich geladen hat, daß man nach seinem Tod weiterträumt?«
    Wie viele Träume würden nötig sein, um Lee von Fredericksburg genesen zu lassen?

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