Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
Vom Netzwerk:
sondern seine eigenen Schmerzen.
    Vielleicht hatte Annie recht, und der Traum bedeutete, daß der Krieg beinahe vorüber war. Vielleicht waren die Träume ebenfalls fast vorbei, und wir beide konnten zusammen nach Hause fahren, auf Bewährung freigesprochen. Bei Appomattox hatte Lee bei Grant erreicht, daß die Männer ihre Pferde behalten durften.
    »Es ist nicht Ostern«, sagte ich mit einem Blick über die Gräber, über die Souvenirläden und die Dächer und Bäume zum Flußufer hinüber, und ich fragte mich, ob Lee an Traveller gedacht hatte, als er Grant bat, die Pferde nicht zu konfiszieren. »Es ist Palmsonntag.«
    Lee war aufgestanden und hatte seine besten Kleider angelegt, seine Galauniform und eine rote Schärpe und sein blaues Militärcape, weil es, wie er sagte, wahrscheinlich war, daß man ihn gefangennehmen würde.
    »Mir bleibt nichts weiter mehr zu tun, als mich mit General Grant zu treffen«, sagte er zu seinen Offizieren, »und ich würde lieber tausend Tode sterben.« Lee bat Longstreet und die anderen Offiziere um Rat, und dann bestieg er Traveller und ritt zum Haus der McLeans. Unterwegs sah er Sam McGowan, seinen Stabsoffizier, der sich aus seinen verdreckten Kleidern schälte und in eine Galauniform zwängte und dabei weinte wie ein kleines Kind.
    Annie und ich gingen den Hügel hinunter, immer noch Hand in Hand; die Stufen waren bereits glatt, die Gräber in der fallenden Dunkelheit kaum noch sichtbar. Das Taxi stand noch da, mit laufendem Motor und angestellten Scheibenwischern, und der Fahrer wartete geduldig wie ein Pferd.
    Ich schickte ihn zurück und brachte Annie zum Coffeeshop und erzählte ihr von den letzten drei Tagen vor der Kapitulation. Unsere Serviererin schenkte uns Ströme von Kaffee ein, deren Dampf die Fenster beschlug, so daß wir nicht in die schneegefüllte Dunkelheit hinausblicken konnten.
    »Es heißt, morgen soll es wärmer werden und wieder regnen, aber ich glaube das nicht«, sagte sie zu uns. »Ich hoffe, Sie müssen nirgendwohin.«
    »Nein«, sagte ich und wünschte, es wäre wahr. »Wir fahren nirgendwohin.«
    Ich brachte Annie aufs Zimmer und steckte sie ins Bett. »Ich bleibe hier«, sagte ich, als wollte sie weggehen, und hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war. Dann sah ich die restlichen Danksagungen durch, stellte mich anschließend ans Fenster und wartete.
    Sie lag unter der Decke vollkommen still, eine Hand auf ihre Brust gelegt, die andere an ihrer Seite, die Wangen bleich wie Marmor. Nach einer lange Weile setzte sie sich auf, das grün und weiß gemusterte Musselin wie eine Krinoline über ihren angezogenen Knien, und legte sich die Hände vor das Gesicht.
    »Was hast du?« fragte ich. »Wovon hast du geträumt?«
    Sie sah zu mir auf und versuchte zu sprechen, die Augen voller Tränen.
    »Hast du von Appomattox geträumt?« fragte ich.
    Sie nickte, starr geradeaus schauend, während ihr immer noch Tränen aus den Augen quollen, und sie brauchte mir nicht zu sagen, wovon sie geträumt hatte. Ich wußte es.
    Sie trafen sich am frühen Nachmittag im Wohnzimmer des McLean-Hauses. Grant sagte zu Lee, daß sie sich schon einmal in Mexico getroffen hätten, und daß er ihn überall wiedererkannt haben würde. Er entschuldigte sich bei Lee dafür, daß er Felduniform und schmutzige Stiefel trug. Er und Lee erörterten die Kapitulationsbedingungen, wobei Grant sich alle Mühe gab, es ›ihnen leicht zu machen‹, wie Lincoln es ihm aufgetragen hatte.
    Lee sagte zu Grant, daß in der Konföderationsarmee die Kavallerie- und Artillerie-Einheiten ihre eigenen Pferde hätten, und bat darum, ihnen zu erlauben, sie zu behalten, da die meisten der Männer kleine Farmer seien und sie für die Frühjahrsaussaat benötigen würden. Es wurde vereinbart, Lees Armee aus Unionsvorräten zu verköstigen. Die Kapitulationsbedingungen wurden aufgezeichnet und unterschrieben.
    Als alles vorbei war, trat Lee aus dem Haus und stand neben Traveller, während der Bursche das Zaumzeug anlegte. Lee strich Travellers Mähne über das Stirnband, glättete es und klopfte dem Grauschimmel abwesend die Stirn. Dann bestieg er das Pferd, das ihn von »Fredericksburg, dem letzten Tag in Chancellorsville, bis nach Pennsylvania, nach Gettysburg und zurück zum Rappahannock« getragen hatte und ritt zum Obstgarten zurück, um seine Männer zu informieren. »Männer, wir haben in diesem Krieg Seite an Seite gekämpft«, sagte er zu ihnen, »und ich habe für euch getan, was ich konnte.«
    Die

Weitere Kostenlose Bücher