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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Männer, die meisten von ihnen Jungen, barfuß und hungrig und zu Tode erschöpft, seine Männer umringten ihn und riefen: »Wir wollen weiter für Sie kämpfen, General!« und: »Ich liebe Sie wie eh und je!« und: »Lebewohl!«, doch die meisten von ihnen konnten nicht sprechen, und sie traten vor und berührten Travellers Mähne und seine Flanke. Lee blickte starr geradeaus, mit ausdruckslosem Gesicht, Tränen in den Augen, doch Traveller schüttelte die ganze Reihe der Männer entlang den Kopf, als gälten die Zurufe alle ihm.
    »Es ist alles gut«, sagte ich. »Du wirst nicht mehr träumen. Der Krieg ist vorbei.«
    Sie streckte die Arme nach mir aus, und ich ergriff sie und hielt sie fest und ließ sie nicht wieder los.

 
14
     
Lee schien die Notwendigkeit zur Kapitulation vor seinen Generälen einzusehen. Zu der Zeit, als sie den Obstgarten erreichten, war die Hälfte seiner Armee vernichtet. Von der Infanterie waren nur noch ein paar Brigaden sowie Longstreets und Gordons Truppen übrig, und keiner der Männer hatte seit Tagen irgend etwas gegessen. Dennoch schnappte Longstreet, als Lee ihm Grants ersten Brief mit den Kapitulationsbedingungen zeigte: »Noch nicht«, und als er Venable fragte, welche Antwort er ihm schicken sollte, sagte Venable steif: »Ich würde einen solchen Brief nicht beantworten.« – »Ah, aber er muß beantwortet werden«, sagte Lee.
In der letzten Nacht vor der Kapitulation schlief er ganz allein unter einem Apfelbaum und umklammerte dabei Travellers Zaumzeug.
     
    AM NÄCHSTEN TAG LASEN WIR im Coffeeshop weiter Druckfahnen, als wenn nichts geschehen wäre, und das würden wir für den Rest unseres Lebens jeden Morgen tun. Im Laufe der Nacht hatte sich der Schnee in einen kalten Regen verwandelt.
    »Wir müßten heute nachmittag eigentlich damit fertig werden«, sagte ich, »und dann können wir morgen mit ihnen nach New York rauffahren und sie im Verlag abgeben. – Wie wird das Wetter?« fragte ich unsere Serviererin.
    »Nördlich von hier regnet es stark. Ein paar Trucker hier haben von Überschwemmungen geredet.«
    Annie gähnte. Sie sah wundervoll aus, erholt, ihre Wangen so rosig wie in jener ersten Nacht, als sie zu mir gekommen war und mich um Hilfe gebeten hatte. Ich nahm ihre Hand in meine.
    »Warum legst du dich nicht wieder ins Bett?« sagte ich. »Du mußt eine Menge Schlaf nachholen. Ich werde McLaws und Herndon anrufen.« Die Serviererin runzelte die Stirn. »Und die Highway-Streife.«
    Wir gingen wieder auf unsere Zimmer. Ich rief den Anrufbeantworter an, um sicherzugehen, daß Broun sich nicht entschlossen hatte, nach Hause zu fahren. Broun hatte eine Nachricht hinterlassen. »Sieg auf ganzer Linie«, sagte er, anscheinend erregt. »Ich wußte, daß ich auf der richtigen Spur war. In der Schlafklinik gibt es ein paar Tb-Patienten, die man untersucht hat, weil sie durch das Fieber häufiger REM-Phasen haben. Alle träumen davon, lebendig begraben zu sein. Sie sagen, sie könnten die kalte, feuchte Erde spüren, die man auf sie schaufelt. Die Ärzte meinen, das kommt vom Nachtschweiß, aber ich habe mit einem von ihnen gesprochen. Ein paar fingen an diese Träume zu träumen, als sie noch gar keine Symptome der Krankheit hatten.
    Nicht nur das, sondern wenn die Krankheit voranschreitet, werden die Träume klarer und weniger symbolisch, und sie träumen von ihren eigenen Symptomen, vom Fieber und Husten und von Blut, und manchmal träumen sie vom Sterben, davor, daß sie beim eigenen Begräbnis zugegen wären, daß sie im Sarg lägen. Deshalb hat Lincoln den Sarg-Traum in jener letzten Woche geträumt. Seine Akromegalie verschlimmerte sich.
    Aber jetzt kommt das Beste. Einer dieser Patienten ist dieser Junge, der Die Schatzinsel gelesen hat. Ich habe ihn darüber befragt, und er meinte, Robert Louis Stevenson wäre sein Held, weil er als Kind ebenfalls Tb hatte. Er meinte, Stevenson hätte ebenfalls davon geträumt, lebendig begraben zu sein. Robert Louis Stevenson hat den gleichen Traum vor hundert Jahren geträumt!«
    Er sagte nicht, wo er war. Er hatte am Samstag eine Signierstunde in Los Angeles und am Montag eine Verabredung mit einem Neurologen. Er würde irgendwann am Dienstag zurück sein, wenn er die Angelegenheit mit den prodromalen Träumen abgeschlossen hatte.
    Brouns Agentin hatte eine weitere Nachricht hinterlassen. »Ich habe McLaws und Herndon gesagt, daß die Fahnen spätestens am Montag eintreffen werden. Wenn Sie Broun nicht erreichen können,

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