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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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geben Sie sie so ab, wie sie sind.«
    Kaum daß sie zu sprechen aufgehört hatte, sagte Richard: »Du mußt mich auf der Stelle anrufen.«
    »Den Teufel werde ich tun«, sagte ich und legte auf. Ich nahm die Fahnen und ging in Annies Zimmer zurück. Annie war auf dem Bett eingeschlafen, die Beine eng an ihren Körper gezogen. Sie hielt ihren linken Arm mit dem rechten, als täte er ihr weh. Ich hob die gefaltete Decke vom Fußende des Bettes hoch und deckte sie damit zu.
    Es waren nur noch ein paar Seiten von Die Bürde der Pflicht durchzusehen. Mrs. Macklin hatte Nelly beim Versuch, sie von dem toten Soldaten wegzubekommen, das Handgelenk gebrochen. Der alkoholabhängige Chirurg mußte sich eine Weile vom Herumsägen an Armen freimachen, um ihren zu verarzten und in eine Schlinge zu legen. Mrs. Macklin wollte, daß sie nach Hause ging. »Du kannst hier nichts mehr tun«, sagte sie.
    »Das haben Sie schon einmal zu mir gesagt«, sagte Nelly. »Sie haben Ihre Pflicht zu tun. Ich habe meine«, und arbeitete so lange weiter, wie es das Lazarett gab, was nicht sehr lange war. Die Armeen rückten vor und ließen Winchester hinter sich, und das Lazarett wurde verlegt und dann abgebrochen, und die Soldaten, die zu schwer verletzt waren, um zu gehen, mußten in Wagen weggebracht werden. Als Bens Einheit auf dem Weg nach Fredericksburg vorbeikam, schloß Ben sich ihr an.
    »Nein«, sagte Nelly, als Ben ihr mitteilte, daß er aufbrechen werde.
    Annie setzte sich im Bett auf und schrie. Ich fuhr zusammen, als wäre ich angeschossen worden. Ich ließ die Fahnen fallen und sprang auf. Mein Fuß war eingeschlafen, und ich fiel halb aufs Bett. Sie schrie wieder und hob die Hände, um mich abzuwehren. Ich packte ihre Handgelenke. »Wach auf, Annie! Du hast einen schlechten Traum. Wach auf!«
    Ich konnte ihren Puls in den Gelenken spüren, flatternd und schnell. »Nein!« sagte sie, und ihre Stimme war voller Verzweiflung. Sie versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien.
    »Annie, wach auf! Es ist nur ein Traum.«
    »Mir ist so kalt«, sagte sie, und einen Moment dachte ich, sie sei wach. »Es ist so kalt. In der Kirche.« Sie zitterte und atmete stoßweise, als wäre sie gelaufen. »Die Versammlung hat so lange gedauert.«
    Welche Versammlung? Nicht die Besprechung mit Longstreet bei Gettysburg. Diese hatte in einer Schule stattgefunden, nicht in einer Kirche. Dunker Church? Sie träumte bestimmt nicht von Antietam, nicht jetzt, wo die Träume eigentlich vorbeisein sollten.
    »Sie konnten sich nicht entscheiden… Zuletzt sagte ich… so kalt!« Sie klapperte mit den Zähnen. Ich ließ ihre Handgelenke los und legte ihr die Decke um die Schultern. Ich zog die Seiten des Bettlakens hoch und legte es über ihre Beine.
    »Worüber wurde beraten?«
    Sie versuchte etwas zwischen ihren klappernden Zähnen hindurch zu sagen, schloß die Augen und legte sich auf die Seite. Sie keuchte und wechselte die Lage, als hätte sie Schmerzen am Arm. Sie hob ihre Hand, um den Ellbogen zu unterstützen und murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Dann drehte sie sich wieder um und sagte, sich immer noch den Arn haltend, deutlich: »Sagen Sie Hill, daß er herkommen soll.«
    Und jetzt wußte ich, von welcher Kirche sie geträumt hatte. Ich schloß die Augen.
    Sie schlief noch eine Stunde lang. Ich blieb eine Weile bei ihr sitzen, dann humpelte ich mit meinem immer noch halb eingeschlafenen Fuß in das andere Zimmer hinüber, holte die Decken und deckte Annie damit zu.
    Das Telefon klingelte. Es war die Frau des Veterinärs mit einer Nachricht. Dr. Barton hatte von dem Pferdekrankheiten-Kongreß aus angerufen. Er ließ mir zwei Dinge ausrichten. Zunächst hatte er auf der Konferenz mit einigen anderen Tierärzten über mich gesprochen, und einer von ihnen hatte erwähnt, daß er kürzlich in einem Wissenschaftsmagazin einen Artikel über Akromegalie gelesen hätte. Er dachte, daß mich das vielleicht interessieren würde. Sie wußte nicht, welche Zeitschrift es war, sie übermittelte mir nur die Nachricht.
    Das zweite war, daß er endlich mit seiner Schwester gesprochen hatte. Sie erinnerte sich nicht, daß Dr. Barton – Dr. Bartons Vater – jemals erwähnt hätte, von Särgen oder Booten geträumt zu haben, und sie war der Meinung, daß er darüber gesprochen haben würde. Er hatte sich wegen seiner Ägypten-Studien sehr für Träume interessiert. Er hatte vor seinem Tod monatelang einen immer wiederkehrenden Traum gehabt, von dem er

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