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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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ein fanatischer Touristenführer. »Eine Granate explodierte, und Traveller stieg auf den Hinterbeinen hoch, sonst wären sie beide getötet worden. Die Granate ging genau unter ihnen vorbei.«
    Sie hatte mir gar nicht zugehört.
    »Ich war am Schlafen«, sagte sie und sah zu, wie der Schnee auf die Gräber fiel. »Im Traum. Ich schlief draußen unter dem Apfelbaum, in dem Bett, das ich als kleines Kind hatte, nur hatte ich in dem Traum eine grünweiße Zudecke. Ich war am Schlafen, und der Apotheker kam und weckte mich und sagte mir, es sei Zeit zu gehen, und ich stand auf und zog mich an. Ich zog ein Kleid mit einer roten Schärpe an, das ich zu Ostern getragen hatte, als ich zehn war, und dazu ein blaues Cape. Ich wußte, daß ich so hübsch wie möglich aussehen mußte, und in allerletzter Minute, als ich schon ganz angezogen war und alle auf mich warteten, machte ich noch mein Bett. Ich bat den Apotheker, mir zu helfen. Er war ebenfalls dabei, sich anzukleiden. Er legte gerade seine Manschettenknöpfe an, doch er unterbrach sich, um mir zu helfen, und die ganze Zeit, während er mit dem Bett beschäftigt war, weinte er. ›Wir müssen gehen‹, sagte er. Die ganze Zeit über, während ich träumte, hatte ich das Gefühl, daß es Ostersonntag war.«
    Sie brach ab und wandte den Kopf, um mich anzusehen, erwartungsvoll, um Hilfe heischend. Und ich konnte ihr ebensowenig helfen, wie Ben verhindern konnte, daß Calebs Leiche weggetragen wurde.
    Was hatte ich eigentlich erwartet? Ich hatte sie hier in diese Stadt gebracht, die ein einziger Friedhof war, und ihr von anderen Friedhöfen erzählt – Arlington, Chancellorsville und Gettysburg –, und hatte ihr, als reichte das noch nicht, eine ganzes Buch zum Thema Pflicht vorgelesen, viele hundert Seiten, die von Leuten handelten, die sich einfach gemeldet hatten, ohne zu wissen, warum, von Leuten, die es bis zum Ende durchfechten mußten, auch wenn sie nicht damit gerechnet hatten, daß sie umkommen könnten.
    Was hatte ich denn geglaubt, wo das hinführen würde, diese Straße ›durch das zweite Manassas, nach Chancellorsville‹, wenn nicht hierher? Ich hätte von Anfang an wissen müssen, daß mein Versuch, sie von Arlington fernzuhalten, ihr durch Fredericksburg und Jacksons Tod und sogar durch Gettysburg hindurchzuhelfen, genau zu diesem Punkt hatte führen müssen, daß all die Wege, über die Traveller Lee getragen hatte, hier in einem Obstgarten nahe Appomattox zusammenlaufen mußten. Sie hatte in ihrem allerersten Traum von einem Obstgarten geträumt, einer Apfelbaumpflanzung und einem Haus mit einer Veranda. Ich hätte es damals wissen müssen.
    Lee hatte am Sayler’s Creek ein Drittel seiner Männer verloren. Am Tag danach, dem siebzehnten April, schrieb Grant und schlug Kapitulationsbedingungen vor. Sheridan bewegte sich nach Westen und Norden, um Lees Rückzug nach Appomattox Station zu blockieren, und Meade attackierte die Nachhut. Die Infanterie war nicht stark genug, um sich durchzukämpfen. Ihre einzige Chance war, nach Westen in die Berge auszuweichen und die Flanke der Unionsarmee zu umgehen, und dies versuchten sie während der nächsten beiden Tage.
    In der Morgendämmerung des neunten April, an Palmsonntag, versuchten sie nahe Appomattox Station einen Ausbruch, doch der Angriff scheiterte. Lee traf sich mit seinen Offizieren in einem Obstgarten außerhalb von Appomattox und teilte ihnen mit, daß er ein Treffen mit General Grant arrangiert hätte. Die Kapitulationsbedingungen wurden im Haus von Wilmer McLean unterzeichnet, einem Mann, der ursprünglich nahe Manassas Junction gelebt hatte. Nach der zweiten Schlacht von Bull Run war er in das kleine Dorf Appomattox Court House umgezogen, »wo sie der Schlachtenlärm niemals erreichen sollte«. Das Haus war ein zweistöckiges gemauertes Farmhaus. Es hatte eine geschlossene hölzerne Veranda, die sich über die ganze Länge des Hauses hinzog.
    »Wir können nicht hier draußen im Schnee bleiben«, sagte ich. »Es wird schon dunkel. Warum fahren wir nicht zurück und essen zu Abend? Unsere Serviererin wird gar nichts mit sich anzufangen wissen, wenn wir nicht da sind und sie uns keinen Kaffee nachschenken kann.«
    Annies unbedecktes Haar begann naß zu werden. Es ringelte sich rund um ihr Gesicht.
    »Bitte«, sagte sie und hielt mir ihre Hand hin, und sie war so weit von mir entfernt, wie es Ben von Nelly gewesen war, die nicht so sehr der zwischen ihnen liegende Tote voneinander getrennt hatte,

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