Linda Lael Miller
seine Mutter in ihrer Schürzentasche quer durch das
ganze Land getragen hatte.
Johns Brief
war ein bißchen nach unten gerutscht, da sein Bruder schon seit Wochen fort
war, und deshalb dauerte es eine Weile, bis Will ihn fand.
Er trug den
versiegelten Ümschlag zu Bess und legte ihn vor ihr auf den Tisch, wo ihr
Teller gestanden hatte, bevor sie ihn achtlos beiseite geschoben hatte.
Sie schaute
den Brief an, als wäre er ein Ochsenfrosch, der sie jeden Augenblick anspringen
konnte. Dann, mit zitternden Händen, hob sie den Ümschlag auf und öffnete ihn
behutsam ...
Bess
wünschte, Will möge
nicht herumstehen und sie beobachten, während sie den Brief seines Bruders
öffnete, aber sie konnte ihn ja wohl kaum aus seiner eigenen Hütte schicken.
Sie biß
sich unwillkürlich auf die Lippen, als sie das einzelne Blatt entfaltete, das
in dem Ümschlag steckte.
Bess hatte
John Tate gewiß nicht geliebt – sie hatte ihn nicht einmal richtig gekannt
–, aber er war schon der zweite Mann in ihrem Leben, der sie um ihre Hand
gebeten und dann sitzengelassen hatte, und das verlieh seinen Worten eine
bittere Bedeutung.
Meine
liebe Elizabeth, hatte
er in sauberer, ordentlicher Schrift geschrieben. Ich bitte Dich aufrichtig
um Verzeihung, daß ich Dich verlassen muß, bevor wir vor einen Priester treten
konnten, aber ich denke, ich wäre Dir auch ganz sicher nicht von großem Nutzen
gewesen, wenn ich geblieben wäre. Ich hätte ständig an Alaska denken müssen und
an all das Gold, das dort auf dem Grund von Flüssen und Bächen liegt, und eine
schöne Frau wie Du hat etwas Besseres als mich verdient.
Mein
Bruder Will ist ein zuverlässigerer Mensch als ich und sieht sogar recht gut
aus unter all dem Haar, und ich weiß, daß ich mich darauf verlassen kann, daß
er für Dich sorgen wird. Es gibt Schlimmeres, als ihn zum Mann zu nehmen,
Liebes – mich zu heiraten, zum Beispiel. Will ist ein guter Mann, der weder
trinkt noch wettet, und er flucht auch nicht übermäßig viel.
Das
erste, was ich tun werde, sobald ich mich im Norden eingerichtet habe, ist,
Dir einen Scheck zu übersenden über soviel Geld, wie ich zusammenkratzen kann.
Denn auf diese Weise kannst Du selbst entscheiden, ob Du bei Will bleiben und
die dreihundertzwanzig Hektar Land abstecken willst, die Dir vom Gesetz her
zustehen, oder ob Du lieber woanders hingehen willst, um ein neues Leben zu
beginnen.
Wie
immer Du Dich auch entscheiden magst, schöne Elizabeth, ich wünsche Dir das
Beste und hoffe, daß Du Deinem untreuen Freund John Tate mit der Zeit verzeihen
kannst.
Bess
faltete den Brief, nachdem sie ihn zweimal gelesen hatte, und steckte ihn
zurück in das Kuvert. Dann stand sie auf, ohne Will anzusehen, und begann den
Tisch abzuräumen.
»Du
solltest auf die Felder zurückkehren, William«, sagte sie brüsk. »Du vergeudest
gutes Tageslicht.«
Will setzte
zu einer Erwiderung an, hielt dann jedoch inne, wandte sich ab und ging hinaus,
ohne die Tür der Hütte hinter sich zu schließen. Der große gelbe Hund kam
hereingeschlichen, legte sich vor die Feuerstelle und schaute hechelnd zu, wie
Bess Wasser für den Abwasch aufsetzte.
Während sie
arbeitete, dachte sie über John Tates Worte nach und fragte sich zum
tausendsten Mal, ob es ihr an irgend etwas mangelte, an irgendeiner
Eigenschaft, die in einem Mann
den Wunsch erweckte, bei einer Frau zu bleiben.
Was immer
es auch sein mag, dachte Bess betrübt, ihre Mutter hatte es besessen. Ihre
Eltern waren siebenunddreißig Jahre glücklich verheiratet gewesen.
Für eine
Weile vermißte Bess ihre Mutter und ihren Vater so sehr, daß sie sicher war,
die Trennung von ihnen nicht mehr zu ertragen. Doch tapfer verdrängte sie ihre Tränen,
weil Will sie nicht weinen sehen sollte, falls er aus irgendeinem Grund früher
zurückkehrte.
Laurel und
Preston Campbell waren sehr bekümmert gewesen, als Bess ihnen ihren Entschluß
mitteilte, für immer fortzugehen, und Simon und seine hübsche junge Frau,
Jillie, hatten sie angefleht zu bleiben. Irgendwann werde sie Mollys Verrat
überwinden, hatten sie gesagt, und ihrer treulosen jüngeren Schwester
vielleicht sogar verzeihen, und wenn ihr das gelang, dann würde sie auch frei
sein, sich in den richtigen Mann zu verlieben.
Bess stieß
ein verächtliches kleines Schnauben aus, das den Hund veranlaßte, den Kopf von
den Pfoten zu heben und sie prüfend anzusehen.
»Ich werde
niemals wieder einen Mann lieben«, versicherte sie dem Hund. »Ünd ich werde
auch
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