Linda Lael Miller
stöhnten so laut, daß sie es bis in die Diele hörte –
und auch das gehörte zur alltäglichen Routine. Ein Lächeln spielte um Rebeccas
Lippen, als sie die Treppe hinunterging. Annabelle und Susan waren jung,
weshalb es ihr nicht schwerfiel, ihnen ihren Mangel an Weitblick nachzusehen.
Es würden Jahre vergehen, bis sie begreifen würden, was für ein Glück es war,
daß sie in diesem soliden Haus lebten, wo sie genug zu essen hatten, warme
Kleider und die Möglichkeit zu einer Ausbildung.
Rebeccas
Lächeln verblaßte, als sie die Küche erreichte und mit den Vorbereitungen für
das Frühstück anfing. Während der Himmel sich rot zu färben begann und die
Frostmuster auf den Fenstern in Rosa und Aprikot tauchte, beschlich sie ein
ungutes Gefühl. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich und den
Zwillingen ein Heim geschaffen auf diesem Stück Land gleich außerhalb der
kleinen Stadt Cornucopia, im Weizenland des Staates Washington. Die Gemeinde
hatte sie als Familie akzeptiert, und durch Näharbeiten oder indem sie
gelegentlich ein Zimmer an einen Reisenden vermietete, schaffte Rebecca es, auf
rechtschaffene Weise den Lebensunterhalt für sich und ihre Schwestern zu
verdienen.
Sie schob
drei dicke Scheiben Brot zum Aufbacken in den Ofen und schlug dann drei braune
Eier in einen Topf mit kochendem Wasser. Annabelle stürmte lautstark in die
Küche und hüpfte auf einem Bein, während sie sich mit ihrem zweiten Schuh
abmühte. Ihr helles, honigblondes Haar war vom Schlafen zerzaust, und ihr
Wollkleid war falsch geknöpft. Susan, die anmutigere der beiden, war bereits
korrekt gekleidet, als sie eintrat; ihr Haar war ordentlich gebürstet und
sauber mit einem Band zurückgebunden.
Sie warf
Rebecca einen gequälten Blick zu und begann den Tisch zu decken, während
Annabelle maulend ihren Mantel überzog.
»So ein
Theater, bloß weil du die Hühner füttern mußt«, bemerkte Susan.
Annabelle
warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu. »Wir werden sehen, wer morgen das
Theater macht, Miss Zickig, wenn du an der Reihe bist, dieses übellaunige
Federvieh zu füttern.«
»Wasch dich
und iß zuerst dein Frühstück, Annabelle«, warf Rebecca freundlich ein. »Ich
möchte nicht, daß ihr zu spät zur Schule kommt.«
Minuten
später setzten die drei sich an den Tisch. Die Morgendämmerung kämpfte noch
immer mit der Dunkelheit, und die Petroleumlampen verströmten ein flackerndes,
behagliches Licht in der warmen Küche.
»Mary Alice
Holton bekommt eine Puppe zu Weihnachten«, verkündete Susan. »Ihr Bruder
schickt sie ihr aus San Francisco. Er arbeitet dort im Hafen auf den Docks.«
Susans
Worte versetzten Rebecca einen Stich. Es war ihr gelungen, ihren Halbschwestern
Nahrung, Unterkunft und eine Menge Liebe zu geben, seit ihr nichtsnutziger
Vater sie in Chicago allein zurückgelassen hatte, vor fast drei Jahren, als sie
selbst erst neunzehn gewesen war. Luxusgegenstände wie im Laden gekaufte Puppen
überstiegen allerdings ihre Möglichkeiten.
Annabelle,
die nüchternere der beiden, verzog das Gesicht. »Mary Alice Holton ist eine
Heulsuse. Ihr Bruder hat ihr die Puppe bestimmt bloß geschickt, damit sie mit
ihrem Gegreine aufhört und ihre Mama und ihren Papa endlich mal in Ruhe läßt.«
Obwohl
Rebecca auch über die Bemerkung lächelte, formte sich doch ein Klumpen in ihrer
Kehle. Was immer Annabelle auch sagen mochte und obwohl sie die meiste Zeit ein
unverbesserlicher Wildfang war, wußte Rebecca, daß sie sich genauso sehnsüchtig
wie Susan eine hübsche Puppe wünschte.
»Sie kostet
ganze zwei Dollar«, fuhr Susan fort, ohne den Einwand
ihrer Schwester zu beachten. »Sie hat Glasaugen und einen Porzellankopf und
echtes Haar. Mary Alice hat sie Jeanette getauft.«
Annabelle
stieß einen leidgeprüften Seufzer aus. »Wenn diese Puppe ein Weihnachtsgeschenk
sein soll, woher will Mary Alice dann wissen, wie sie aussieht? Bis Weihnachten
sind es noch drei Wochen.«
»Sie hat
spioniert«, entgegnete Susan herablassend.
»Beeilt
euch jetzt«, sagte Rebecca brüsk, während sie sich von ihrem Stuhl erhob, nach
ihrer leeren Schale griff und ihr Besteck und den Teller forträumte, von dem
sie ihren Toast und ihr pochiertes Ei gegessen hatte. »Ihr kommt zu spät zur
Schule. Und vergiß nicht, die Hühner zu füttern, Annabelle!«
Annabelle
und Susan schauten sich an– obwohl sie sich sehr häufig zankten, besaßen die
Zwillinge ein fast unheimliches Talent, sich ohne Worte zu verständigen, wenn
sie es
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