Linda Lael Miller
Menge auf, doch Bonnie achtete nur auf den Fremden mit den
traurigen Augen.
»Eure
Brüder haben beschlossen, daß es jetzt reicht«, setzte er seine Ansprache fort.
»Die McKutchen Enterprises haben sich an den Früchten eurer Arbeit bereichert,
Männer. Euer Blut und euer Schweiß haben die Besitzer reich gemacht, und was
habt ihr? Nichts als eine erbärmliche Hütte! Ihr seid arm, bettelarm!«
»Aber
wenigstens haben wir etwas zu essen!« rief ein Mann, den Bonnie nicht sehen
konnte. »Oder hatten wir, bis diese blöde Gewerkschaftshysterie um sich griff!«
»Ich werde
jedenfalls zu meiner Schicht antreten!« stimmte ein anderer Arbeiter zu. »Ich
habe eine Familie zu ernähren.«
Einige
Männer murmelten oder riefen beifällig Worte, während andere noch zögerten.
Der einsame Fremde vor der Gruppe hob beide Hände und bat um Ruhe. »Es wird
Streik geben. Er hat schon angefangen. Und falls jemand versucht, die Linien zu
überqueren, wird es zu Gewalttätigkeiten kommen. Und Blutvergießen. Das alles läßt
sich jedoch vermeiden, wenn wir zusammenhalten!«
Bonnie
schloß die Augen. Sie hatte über andere Streiks an anderen Orten gelesen und
wußte, daß auf beiden Seiten Männer sterben würden, falls man zu keiner
Einigung gelangte.
Angst
bemächtigte sich ihrer, aber da sie die Bürgermeisterin der Stadt war, hatte
sie die Pflicht, für Ruhe zu sorgen. Entschlossen entfernte Bonnie sich von
Webbs Seite, drängte sich durch die Menschenmenge und trat neben den
Gewerkschafter auf den Stufen vor dem Pompeii Theater. Er stand auf einer
Obstkiste, was ihn größer erscheinen ließ, aber Bonnie hatte dennoch das
Gefühl, daß er um einiges kleiner war als sie.
»Würden Sie
bitte herunterkommen«, bat sie ihn ruhig, und die weiblichen Zuschauer, Menelda
Sneeder unter ihnen, begannen hinter vorgehaltener Hand zu flüstern.
Verblüfft
stieg der Redner von seiner Obstkiste, und Bonnie nahm völlig gelassen seinen
Platz ein, obwohl sie innerlich vor Aufregung zitterte.
»Als eure
Bürgermeisterin«, begann sie, »habe ich auch etwas zu sagen.«
Das
darauffolgende Schweigen wurde bald vom leisen Wispern der Frauen und dem
unterdrückten Gelächter der Männer unterbrochen.
»Ich
versichere euch, daß meine Berufung in dieses Amt auf sehr ungewöhnliche Weise
geschah ...«
»So war es,
Engel!« rief ihr einer ihrer ergebensten Tanzpartner zu. »Die Stadträte waren
eines Abends sinnlos betrunken und wählten Sie als Nachfolgerin für den armen
Hawley – und wenn auch bloß, um ihre Frauen zu verärgern!«
»Ich mache
mir über die Art meiner Wahl nichts vor«, antwortete Bonnie mit klarer, wenn
auch etwas zitternder Stimme. »Aber ich bin gewählt und für mein Amt
vereidigt worden. Wenn ihr jetzt so freundlich wärt, mir Gehör zu schenken ...«
»Frauen
dürfen in diesem Staat nicht einmal wählen!« ließ sich eine mürrische
Männerstimme vernehmen. »Sie sind gar nicht richtig unsere Bürgermeisterin,
Bonnie, also kehren Sie in den Brass Eagle zurück – wo Sie hingehören!«
»Ich bin Bürgermeisterin«, beharrte Bonnie ärgerlich. »Und falls ihr keine
außergewöhnliche Wahl einberuft, bleibe ich es bis November. Und jetzt laßt
eure unpassenden Bemerkungen über den Brass Eagle und das nichtexistierende
Frauenwahlrecht, und hört mir zu!«
»Bravo,
Engel, gib es ihnen!« rief Jim Sneeder und handelte sich damit von Menelda einen
harten Stoß in die Rippen ein.
Bonnie
holte tief Atem, dann sagte sie: »Eure Beschwerden gegen die McKutchen-Werke
sind gerechtfertigt, aber ihr müßt trotzdem vernünftig sein.« Wieder erhob sich
Gemurmel in der Menge, und Bonnie wartete einen Moment ab. »Ein Streik bringt
Gefahren mit sich, es könnte Verletzte oder sogar Tote geben. Frauen und Kinder
werden hungern und vielleicht sogar ihr Heim verlieren. Warum wendet ihr euch
nicht an Mr. McKutchen und versucht, mit ihm ein Abkommen zu treffen? Er hat
seine Aufgaben vernachlässigt, das gebe ich zu, aber Eli ist ein vernünftiger,
intelligenter Mann ...«
»Sie müssen
ja wissen, was für ein Mann er ist!« rief eine Frau in der ersten Reihe giftig.
Ein Blick verriet Bonnie, daß es sich um Miss Willadeen Severs, die
Schulleiterin handelte.
Bonnie
verzichtete darauf, Miss Severs öffentlich an ihre längst überfällige Rechnung
im Laden zu erinnern und beschloß ihre erste und vermutlich letzte Rede als
Bürgermeisterin von Northridge mit den Worten: »Bitte laßt eure Entscheidung
nicht von einigen wenigen
Weitere Kostenlose Bücher