Linda Lael Miller
vergessen. Miss Genoa bat mich, Ihnen dies zu geben.« Er zog einen
hellblauen Umschlag aus seiner Rocktasche. »Sie gibt übernächsten Samstag eine
Gartenparty und hofft sehr, Sie dort zu sehen.«
Eine
Gartenparty. Typisch Genoa, eine Gesellschaft zu planen, während ihre gesamte
Welt auf dem Kopf stand! Lächelnd nahm Bonnie den Umschlag entgegen und brach
das elegante Wachssiegel.
»Ich
wünsche Ihnen einen schönen Tag, Mrs. McKutchen«, sagte Seth höflich, als er
die Ladentür öffnete, um zu gehen.
Bonnie
schaute von Genoas Einladung auf. »Auf Wiedersehen, Seth. Und vielen, vielen
Dank!«
Seth
errötete. »Gern geschehen«, erwiderte er leise.
Den Rest
des Tages ging Bonnie fröhlich ihrer Arbeit nach und machte sogar Pläne, den
Laden zu vergrößern und ein Sortiment von Kleidern in ihr Angebot aufzunehmen.
Vielleicht würden dann die Mitglieder des Freitagnachmittagsclubs, die sie
bisher immer geschnitten hatten, der Versuchung nicht mehr widerstehen können,
auch einmal ihren Laden zu betreten.
Während
Bonnie summend die Regale abstaubte, wusch Tuttle die Schaufenster, und Katie
ging mit Rose Marie an die frische Luft hinaus.
»Ein kluges
Mädchen, diese Katie«, bemerkte Tuttle. »Sie geht nicht zur Schule und weiß
doch mehr als die meisten Lehrer.«
Bonnie
lächelte. »Sie liest eben sehr viel.«
»Sie liest zuviel«, entgegnete Tuttle, und diesmal klang es vorwurfsvoll. »Ein Wunder, daß sie
noch nicht blind ist!«
Aha, dachte
Bonnie. »Und du, Tuttle? Was möchtest du lernen?«
»Ach, ich
weiß nicht, Madam. Aber ich wäre gern wie Mr. Hutcheson oder Mr. McKutchen –
vielleicht sogar wie Forbes Durrant. Ich würde mir meinen Lebensunterhalt
lieber mit Denken verdienen, anstatt Kohle zu schaufeln oder Bürgersteige zu
fegen.«
Seine Worte
stimmten Bonnie nachdenklich. »Warum fragst du Mr. Hutcheson nicht, ob er einen
Lehrling braucht?« schlug sie vor. »Vielleicht wäre er ja bereit, dir sein
Handwerk beizubringen.
Tuttles
Gesicht hellte sich für einen Moment auf, um sich gleich darauf wieder zu
verdüstern. »Ich kann nicht besonders gut lesen und schreiben. Wie sollte ich
da jemals Artikel verfassen?«
Bonnie stieg
von ihrer Leiter herab. »Im Zeitungswesen gibt es viel mehr zu tun als
schreiben, Tuttle. Du könntest zum Beispiel das Drucken lernen. Und Katie und
ich können dir Nachhilfeunterricht im Schreiben und Lesen geben.«
Ein leiser
Hoffnungsschimmer erschien im Blick des Jungen. »Ein Journalist würde Miss
Katie sicher gefallen...?«
Bonnie
mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht zu lächeln. »Wenn du Journalist werden
willst, Tuttle, dann tu es, weil der Beruf dir Spaß macht, aber nicht, um einem
Mädchen zu gefallen.«
»Könnte ich
nicht jetzt gleich zu Mr. Hutcheson gehen? Bitte, Madam! Ich habe die Fenster
gewaschen und ...«
»Ja,
Tuttle, geh nur. Du kannst Mr. Hutcheson dann gleich sagen, daß ich ihn gegen
sechs Uhr zum Abendessen erwarte.«
Tuttle war schon
an der Tür. »Ja, Madam. Und vielen Dank!«
Bonnie
schaute ihm seufzend nach und hoffte, keine unerfüllbaren Hoffnungen in ihm
geweckt zu haben.
Das nächste
Mal, als die Ladenglocke klingelte, kam Earline Kalb herein. Durch die Pension,
die sie betrieb und in der sie nur männliche Gäste beherbergte, war sie in
gesellschaftlicher Hinsicht nicht viel angesehener als die Tanzmädchen im Brass
Eagle.
Earline
hatte eine sehr gute Figur und dichtes kastanienbraunes Haar, ihre großen
grünen Augen waren von langen schwarzen Wimpern umrahmt. Sie war noch jung und
attraktiv, und Bonnie wunderte sich, daß sie nie geheiratet hatte.
»Womit kann
ich Ihnen dienen?« fragte Bonnie. Selbst Earline, deren Ruf in der Stadt nicht
gerade der beste war, hatte noch nie etwas bei ihr gekauft.
»Es wird
überall in der Stadt erzählt, daß Sie und Webb Hutcheson heimlich verheiratet
sind«, begann Earline und beugte sich mit solch drohender Miene vor, daß Bonnie
erschrocken hinter die Theke zurückwich.
»Wenn es
überall erzählt wird, ist es ja wohl kein Geheimnis mehr«, entgegnete Bonnie
kalt, weil sie es als Unverschämtheit empfand, von dieser Frau in ihrem eigenen
Laden angegriffen zu werden.
»Dann
stimmt es also?« Earline zerrte ihre Handschuhe ab, als bereitete sie sich auf
einen Faustkampf vor.
Bonnie
wußte nicht, was sie antworten sollte. »Nun ja ...«
»Wissen
Sie, was über die Nacht erzählt wird, die Sie mit Webb auf der anderen
Flußseite verbrachten?« Earline machte eine Pause und
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