Linda Lael Miller
wäre er eine Krücke.
»Ich habe
wenig oder gar keinen Bedarf für Ihre Dienste«, verkündete sie und verspürte
ein leises Schuldbewußtsein, als sie seinen enttäuschten Blick sah. »Aber ich
bin gekommen, um Sie in einer anderen Angelegenheit um Ihre Hilfe zu bitten,
da Sie ganz ohne Zweifel einer der am besten informierten und wichtigsten
Bürger dieser Stadt sind.«
Oldmixen
strahlte, als hätte sie ihn mit Alexander dem Großen oder Napoleon verglichen.
Sein Nicken, als er sich in seinem Sessel niederließ, drückte eine gewisse
Ehrfurcht aus. »Selbstverständlich«, sagte er rasch. »Was wünschen Sie, Mrs.
McKeige?«
Annabel war
klar, daß ihre Antwort mindestens den gleichen Klatsch auslösen würde wie ihre
unerwartete Ankunft in der Stadt, aber das beunruhigte sie nicht. »Ich suche
ein kleines Haus hier«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie kennen ein geeignetes
Objekt, das ich kaufen oder mieten könnte.«
Der Bankier
öffnete den Mund, schloß ihn wieder, räusperte sich und verschränkte seine
Hände vor dem Bauch. »Ein Haus«, wiederholte er verblüfft, als sei ihm das Wort
unbekannt. Wahrscheinlich hatte er, wie alle anderen in Parable, angenommen,
sie habe sich mit Gabriel versöhnt.
Sie
unterdrückte einen Seufzer und wartete geduldig. Trotz der sinnlichen Freuden
der vergangenen Nacht standen sie einer Versöhnung nicht näher als zuvor.
Gabriel hatte sich nicht verändert, und sie auch nicht. Sie wollte nur eine
Zeitlang in Parable bleiben, ihrem Sohn zuliebe.
»Da wäre
das Jennings-Haus«, meinte Oldmixen und zog die Brauen hoch, als fände er es
selbst überraschend, daß er sich noch daran erinnerte. »Es müßte allerdings
gründlich renoviert werden. Seit dem Mord lebt dort niemand mehr.«
Leises
Unbehagen erfaßte Annabel, das jedoch nichts an ihrer Entscheidung ändern
konnte. »Mord?« Nicholas hatte in seinen Briefen nichts von einem solchen
Verbrechen erzählt.
»Mrs.
Jennings hat dort vor zwei Jahren ihren Mann erschossen.«
»Das ist ja
schrecklich!«
»Es gibt
Leute, die behaupten, er habe es verdient«, erwiderte Mr. Oldmixen mit einem
müden Seufzer.
»Hat er sie
geschlagen?«
Oldmixen
errötete. »Nein, Madam. Sie fand heraus, daß er ... ihr untreu war. Daß er
eine Geliebte hatte.«
Ein
unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Annabel mußte unwillkürlich an Julia
Sermon denken, und Mr. Oldmixens Gedanken gingen ganz ohne Zweifel in die
gleiche Richtung.
»Ich kann
sie verstehen«, erwiderte Annabel schließlich leise.
Wieder
räusperte sich Oldmixen und wandte das Gesicht ab. »Na ja«, sagte er. »Na ja.«
»Ich nehme
das Haus«, erklärte Annabel. »Wo ist es, und an wen muß ich mich wenden?«
»An mich«,
meinte Mr. Oldmixen, ganz offenbar verlegen. »Es war eine Hypothek darauf, und
nach Mr. Jennings bedauernswertem Tod sahen wir uns gezwungen, sie
einzufordern. Natürlich würden wir das Haus lieber verkaufen und unsere
Investition wieder ausgleichen, falls es möglich ist.«
Annabel
erhob sich. Was sie betraf, so war die Angelegenheit damit erledigt. »Also gut.
Ich werde mir das Haus ansehen und Ihnen dann den Preis nennen, den zu zahlen
ich bereit wäre. Wenn Sie so freundlich wären, mir die Adresse zu geben?«
Der Bankier
keuchte von der Anstrengung, mit ihrem Tempo Schritt zu halten; die
Schnelligkeit, mit der Annabel Entscheidungen traf, hatte sehr oft diesen
Effekt auf andere. »Ich ... äh ... nun, das Haus ist offen. Aber ich begleite
Sie gern dorthin.«
Sie nickte
nur, und gemeinsam verließen sie die Bank.
Das Haus,
ein einstöckiges Gebäude am Rand der Stadt, erwies sich als recht groß. Zu
Annabels Erleichterung waren keine Blutspuren an den Tapeten oder auf den
Böden zu entdecken – womit sie nach Mr. Oldmixens Bemerkungen eigentlich
gerechnet hatte –, und die Räume waren hell und freundlich. Keine unglücklichen
Gespenster also, die hier lebten und nachts über den Dachboden stapfen und
Töpfe und Pfannen in der Küche klirren lassen würden.
»Was soll
es kosten?« fragte Annabel, als sie ihre Besichtigung beendet hatte.
Mr.
Oldmixen nannte eine Summe und besaß genügend Anstand, dabei eine beschämte
Miene aufzusetzen.
»Viel zu
teuer«, erwiderte Annabel und sagte ihm, was sie bereit war zu bezahlen.
Der Bankier
trat von einem Fuß auf den anderen und hüstelte verlegen. »Ich denke, das wird
möglich sein«, gab er schließlich nach, und als Annabel ihm die Hand reichte,
um das Abkommen zu besiegeln, riß er verblüfft
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