Linda Lael Miller
nichts mehr antun konnte. Ich war dir eine Freundin, so gut ich
konnte, aber jetzt ist es vorbei. Wir beide hätten es schon vor langer Zeit
beenden sollen, Gabe. Wir haben uns wie dumme Narren aufgeführt, ganz gleich,
wie ehrenhaft unsere Absicht auch war.«
»Was hast
du vor?« fragte Gabe. Sie hatte schon oft davon gesprochen, Parable zu
verlassen, um in einer großen Stadt ein neues Leben zu beginnen, einer Stadt,
in der es Theater gab und Symphonieorchester, Bibliotheken, Parks und elegante
Läden. Wo die Vergangenheit einer Frau nicht ganz so mächtig war und es nichts
gab, was qualvolle Erinnerungen heraufbeschwören konnte.
»Ich warte
ab, bis Nicholas außer Gefahr ist«, sagte sie. »Dann werde ich mein Geld auf
irgendeine Bank in San Francisco, Chicago oder New Orleans überweisen, den
Saloon verkaufen und Parable verlassen. Wie ich es schon vor langer Zeit hätte
tun sollen.«
»Nenn mir
deinen Preis«, sagte Gabe, womit er natürlich den Saloon meinte. Ihn zu kaufen,
war das mindeste, was er für eine gute Freundin wie Julia tun konnte.
Julia
lächelte über den Vorschlag, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Gabriel. Ich
werde dir den Saloon nicht verkaufen. Welche Chance hättest du bei Annabel,
wenn du eines schönen Tages mit dem Schlüssel eines Bordells am Gürtel
heimkämst?«
Er erwiderte
ihr Lächeln, obwohl er nichts lieber getan hätte, als sich abzuwenden und die
Treppe hinaufzuflüchten, um sich neben Nicholas' Bett zu knien und zu weinen,
offen und ohne die geringste Scham, wie Jessie, Annabel und Olivia es taten.
»Du hast
natürlich recht, wie immer«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Aber falls du
irgend etwas brauchst ...«
»Schick mir
jemanden mit einer Nachricht hinüber, sobald es Nicholas bessergeht. Das ist
alles, was ich von dir brauche, Lieber.«
»Danke«,
antwortete Gabe mit einem zustimmenden Nicken, dann trat er beiseite und
öffnete die Tür, um Julia hinauszulassen.
»Wofür?«
fragte sie und drehte sich auf der Schwelle noch einmal nach ihm um.
»Für deine
Zuversicht, daß er gesund wird.«
Julia hob
die Hand und berührte Gabes stoppelbärtiges Gesicht. »Das war nicht nur so
dahingesagt, Gabriel«, erwiderte sie zärtlich. »Nicholas ist dein Sohn und
Annabels. Er ist viel zu stur, um aufzugeben.«
»Laß es
mich wissen, falls du etwas brauchst«, wiederholte Gabe, und seine Stimme klang
jetzt sogar noch rauher als zuvor.
Sie
berührte seine Schulter. »Ich brauche nur zu wissen, daß du glücklich bist«,
erwiderte sie. »Das ist alles.«
Damit
verließ Julia Jessies Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen, und Gabe dankte
ihr im stillen dafür, genauso wie für all jene anderen Gelegenheiten, bei
denen sie sich als wunderbare, vertrauenswürdige Gefährtin erwiesen hatte.
»Leb wohl«,
murmelte er verhalten.
15. Kapitel
Nicholas' erster bewußter Gedanke war, daß er
Wasser lassen mußte, sein zweiter, daß er noch am Leben sein mußte – denn im
Himmel hätte ihn ein solch irdisches Bedürfnis ganz gewiß nicht mehr gequält.
Und in der Hölle hätte diese schlichte Handlung zu viele Feuer ausgelöscht.
Bei dieser
Vorstellung entrang sich seiner Kehle ein rauhes Lachen, das fast so schmerzte
wie die Wunde in seiner Seite. Es war stockfinster, und da er noch zu benommen
war, um seine Fähigkeiten richtig einzuschätzen, fragte er sich, ob es noch
eine zweite Kugel gegeben haben mochte. Vielleicht war er in den Kopf getroffen
worden und erblindet?
»Nicholas?«
Die Stimme seines Vaters klang gebrochen.
»Ja«, sagte
Nicholas, obwohl es ihn große Mühe kostete. Es ist nur ganz normale Dunkelheit,
schloß er erleichtert, als er hörte, wie ein Streichholz angezündet wurde und er
Licht aufflackern sah.
Gabe holte
einen Becher Wasser, nachdem er Licht gemacht hatte, und hielt ihn an Nicholas'
Lippen. Die Augen seines Vaters schimmerten verdächtig feucht, als Gabe mit der
freien Hand vorsichtig den Kopf vom Kissen hob.
»Es ist schön,
dich zu sehen, Junge«, sagte Gabe.
Nicholas
schaffte es zwar zu lächeln; aber er war zu schwach, um irgend etwas anderes zu
tun. Als er noch ein paar Schlucke Wasser trank, sah er das müde, verzweifelte
Gesicht seiner Mutter an Gabes Schulter, und alle Zweifel, die er im stillen
noch an ihr gehegt hatte, lösten sich auf wie Nebel in der Sonne.
»Horncastle
und die anderen?« krächzte er.
»Sind alle
im Gefängnis«, antwortete Gabe. »Mehr als ein Dutzend insgesamt.«
Annabel
wartete, bis Gabe
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