Linda Lael Miller
verbringen?
Der Regen,
der den ganzen Nachmittag nicht aufhörte, spiegelte Glorianas düstere Stimmung
wider. Trotz ihrer tiefen Niedergeschlagenheit jedoch hörte sie aufmerksam zu,
als Janet ihr alles zeigte, was sie wissen mußte, um den kleinen Laden führen
zu können.
Gloriana
war verblüfft, daß Janet ihr, einer Fremden, eine so große Verantwortung
übertrug. Der Laden war voller Kostbarkeiten.
»Wenn Sie
Zweifel haben«, sagte Janet später, als die beiden Frauen an dem kleinen Ofen
im Laden saßen und Tee tranken, »dann schließen Sie einfach ab, ziehen die
Jalousie herunter und gehen spazieren oder nach oben, um fernzusehen. Die
Kunden sind es gewöhnt, daß der Laden nicht ständig geöffnet ist.«
»Und wenn
ich einen Fehler mache?« fragte Gloriana leise. In Hadleigh Castle, vor Danes
Rückkehr vom Kontinent, hatte sie gelernt, die Haushaltsbücher zu führen, ihr
Vermögen immer selbst verwaltet. Was Janet ihr gezeigt hatte, ergab durchaus
einen Sinn für sie, selbst wenn es ihr ein wenig kompliziert erschien.
Janet
zuckte die Schultern. »Jeder macht mal einen Fehler. Falls Sie sich einmal
nicht sicher sind, dann bitten Sie den Kunden einfach, bis zu meiner Rückkehr
abzuwarten.«
Damit war
das Thema Geschäft erledigt. Gloriana zog sich in ihr Zimmer zurück, badete und
ging früh zu Bett. Sie hatte nichts zu Abend essen wollen und begann fast
augenblicklich zu träumen, als sie sich hinlegte, so lebhaft, daß sie einige
aufregende Minuten lang tatsächlich glaubte, nach Kenbrook Hall und zu Dane
zurückgekehrt zu sein.
Ihr war,
als stünde sie im Turmzimmer neben dem Bett, das sie einst mit ihrem Mann
geteilt hatte. Er schlief, nur bis zur Taille zugedeckt, und sein blondes Haar
schimmerte im schwachen Schein einer kleinen Öllampe.
Gloriana
flüsterte seinen Namen, als sie seine Stirn berührte. Er bewegte sich und
murmelte etwas, und sie beugte sich über ihn, im vollen Bewußtsein, daß sie
träumte und sie sich in Wahrheit so fern waren wie eh und je. Sie küßte seinen
Mund, und ihre Tränen tropften auf sein Gesicht.
Da öffnete
er die Augen. »Gloriana«, murmelte er rauh. »Gott sei Dank ...«
Sie fühlte,
wie sie verblaßte, und griff nach ihm, aber es war bereits zu spät.
Tränenüberströmt und mit wehem Herzen erwachte sie in Janets kleinem
Gästezimmer. Dane war ihr so
fern wie eh und je, und doch spürte sie, daß er ihr nahe war. Sein unverkennbar
herber Duft erfüllte ihre Nase, und sie spürte noch die Wärme seines Munds auf
ihren Lippen.
Langsam
ließ sie sich zurücksinken und versuchte nicht einmal, ihre Tränen zu
verdrängen. Doch während sie trauerte, kam ihr ein verblüffender Gedanke. Hatte
sie nur von Dane geträumt, oder war sie tatsächlich, wenn auch nur für viel zu
kurze Zeit, bei ihm gewesen?
Dane lag
zitternd im Bett
und schaute sich in dem düsteren Zimmer um, in dem nur eine einzige Lampe
ihren schwachen Schein verbreitete. Er hatte Gloriana gesehen. Sie hatte
ihn geküßt, unendlich sanft und zärtlich, und er hatte die Liebe in ihren
schönen Augen gesehen, als sie ihn angeschaut hatte.
Ein Traum?
Nein. Dane zweifelte nicht daran, daß sie tatsächlich bei ihm gewesen war.
Irgendwie, für einen winzigen Moment, war es Gloriana gelungen, die Barrieren
der Zeit zu überwinden, die sie trennte. Obwohl es ihn mit Verzweiflung
erfüllte, daß sie von neuem für ihn verloren war, fühlte er sich auch
ermutigt. Denn durch die Gnade Gottes oder eines wohlwollenden Engels würde er
sie wiederfinden.
Er stand
auf, ging zum Fenster und starrte auf den im Mondlicht schimmernden See hinaus.
Wäre Gloriana entführt worden, hätte er etwas unternehmen können, um sie
heimzubringen, selbst wenn es bedeutet hätte, sich mit sämtlichen Räubern in
ganz England anzulegen und all ihre Schlupfwinkel zu durchsuchen. Doch Gloriana
hatte irgendeine geheimnisvolle Schwelle übertreten, über die er ihr nicht
folgen konnte ...
Am
Morgen nach dem
geträumten Besuch bei Dane erwachte Gloriana mit wehem Herzen, Kopfschmerzen
und geschwollenen Augen. Sie wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser,
bürstete ihr Haar und reinigte ihre Zähne, bevor sie sich anzog und ins
Wohnzimmer hinüberging.
Janet trank
Tee und röstete Brot, als Gloriana den Raum betrat.
»Großer
Gott«, rief Janet, sprang auf und lief zu Gloriana, »Sie sehen aus, als hätten
Sie die ganze Nacht geweint! Sind Sie krank? Soll ich Lyn anrufen?«
Gloriana
schüttelte den Kopf und bemühte sich, zu
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