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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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konfisziert. Wie einfach! Das war vor zwei Jahren. Und heute – wieder.
    Die freie Kleidung, die bis in die Bergwerke durchgedrungen war, ereilte es später. Ich erinnerte mich, wie ich nachts geweckt wurde, die Baracke wurde täglich durchsucht – täglich wurden Menschen mitgenommen. Ich saß auf der Pritsche und rauchte. Eine neue Durchsuchung – nach ziviler Kleidung. Ich hatte keine zivile Kleidung, alles war im Magadaner Badehaus geblieben. Aber meine Kameraden hatten zivile Kleidung. Das waren wertvolle Sachen, Symbol eines anderen Lebens, verdorben, zerrissen, ungeflickt – zum Flicken fehlten die Zeit wie die Kräfte –, aber doch von zu Hause.
    Alle standen an ihren Plätzen und warteten. Der Untersuchungsführer saß an der Lampe und schrieb ein Protokoll, ein Durchsuchungs-, ein Sicherstellungsprotokoll, wie das in der Lagersprache heißt.
    Ich saß auf der Pritsche und rauchte, ohne Aufregung, ohne Empörung. Mit dem einzigen Wunsch, daß die Durchsuchung bald zu Ende wäre und ich schlafen könnte. Aber plötzlich sah ich, wie unser Barackendienst, er hieß Praga, mit dem Beil den eigenen Anzug zerhackte, Laken in Stücke riß, Schuhe zerschnitt.
    »Nur für Fußlappen. Nur als Fußlappen gebe ich sie her.«
    »Nehmt ihm das Beil weg«, brüllte der Untersuchungsführer.
    Praga warf das Beil auf den Boden. Die Durchsuchung stockte. Die Sachen, die Praga zerrissen, zerschnitten und vernichtet hatte, waren seine, gehörten ihm. Diese Sachen hatte man noch nicht im Protokoll verzeichnet. Als Praga sah, daß niemand ihn festhalten würde, verwandelte er seine gesamte zivile Kleidung in Lumpen. Vor meinen Augen und vor den Augen des Untersuchungsführers.
    Das war vor einem Jahr. Und heute – wieder.
    Alle waren aufgewühlt, aufgestachelt und schliefen lange nicht ein.
    »Es gibt keinerlei Unterschied zwischen den Ganoven, die uns ausrauben, und dem Staat«, sagte ich. Und alle stimmten mir zu.
    Der Wächter Skorossejew ging etwa zwei Stunden vor uns zum Dienst auf seine Schicht. In Zweierreihen, wie es der Tajgapfad zuließ, kamen wir böse und gekränkt beim Kontor an – ein naiver Gerechtigkeitssinn lebt sehr tief und vielleicht unausrottbar im Menschen. Man könnte meinen – wozu gekränkt sein? Sich ärgern? Sich empören? Das ist ja das tausendste Beispiel – diese verfluchte Durchsuchung. Auf dem Grund der Seele brodelte etwas, stärker als der Wille, stärker als die Lebenserfahrung. Die Gesichter der Häftlinge waren dunkel vor Wut.
    Auf der Vortreppe vor dem Kontor stand der Chef Wiktor Nikolajewitsch Plutalow selbst. Auch das Gesicht des Chefs war dunkel vor Wut. Unsere winzige Kolonne blieb vor dem Kontor stehen, und sofort wurde ich in Plutalows Kabinett gerufen.
    »Du sagst also«, Plutalow setzte sich mühsam und unbequem auf den Hocker am Schreibtisch, sah mich finster an und biß sich auf die Lippen, »der Staat ist schlimmer als die Ganoven?«
    Ich schwieg. Skorossejew! Als ungeduldiger Mensch tarnte Herr Plutalow seinen Denunzianten nicht, wartete nicht einmal zwei Stunden ab! Oder ging es hier um etwas anderes?
    »Eure Gespräche gehen mich nichts an. Aber wenn man mir etwas anzeigt, oder wie heißt das bei euch? Petzt?«
    »Petzt, Bürger Natschalnik.«
    »Oder vielleicht pfeift?«
    »Pfeift, Bürger Natschalnik.«
    »Geh an die Arbeit. Ihr seid ja bereit, euch gegenseitig zu fressen. Politiker! Die Weltsprache. Alle verstehen sich. Ich bin der Chef – ich muß etwas tun, wenn man mir petzt ...«
    Plutalow spuckte zornig aus.
    Eine Woche verging, und ich fuhr mit der nächsten Etappe aus der Erkundung, der glücklichen Erkundung, in den großen Schacht, wo ich gleich am ersten Tag anstelle des Pferdes, mit der Brust gegen den Balken gestemmt, an die ägyptische Kreiswinde kam.
    Skorossejew blieb in der Erkundung.
    Eine Vorstellung der Lager-Laienkunst war im Gang, und der Wanderschauspieler, der Conférencier, kündigte eine Nummer an und lief in die Garderobe, eines der Krankenzimmer, um die Stimmung der unerfahrenen Mitwirkenden zu heben. »Die Vorstellung läuft gut! Gut läuft die Vorstellung«, flüsterte er jedem Teilnehmer ins Ohr. »Gut läuft die Vorstellung«, verkündete er laut, lief im Künstlerzimmer auf und ab und wischte sich mit einem schmutzigen Lappen den Schweiß von der heißen Stirn.
    Alles war wie bei den Großen, und auch der Wanderschauspieler selbst war in der Freiheit ein großer Schauspieler gewesen. Auf der Bühne las jemand mit sehr bekannter

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