Linksträger: Roman (German Edition)
überrascht zu mir.
Er wird doch jetzt nicht etwa?
Doch er wird.
Julia hält ihrer Tochter sogar die Ohren zu. Sie erwartet wohl Schlimmes.
»Liebe Gemeinde …«
Ich wiederhole mich noch einmal und versuche, mir so etwas mehr Zeit zu verschaffen, um mir irgendeinen Text aus dem Leib zu pressen. Leider schlägt mir mein Kurzzeitgedächtnis nur einen einzigen Text vor. Nur der Himmel weiß, warum mir gerade dieser einfällt. Gott muss eben doch Humor haben. Ich räuspere mich und beginne: »Wer also fleißige Handwerker sehen will, der muss … zu den Kindern gehen.«
Schlagartig werden die Augen in den ersten Reihen noch größer. Besonders Julia drohen sie aus den Augenhöhlen zu flutschen. Dann erkenne ich, dass sie ein Lachen unterdrückt.
»Denn ich sage euch: Stein auf Stein, ja Stein auf Stein, das Häuschen wird bald fertig sein.«
Auch Julias Tochter Frieda erkennt ihren Reim wieder und beginnt sofort, rhythmisch zu klatschen. Julia unterbindet es jedoch sogleich.
»Und wie Jesus Vater … äh, na … Josef, der selbst Tischler war, schon sagte: Zisch, zisch, zisch, der Tischler hobelt glatt den Tisch.«
Vereinzelt kann ich leises Kichern hören, doch die meisten halten sich erstaunlich tapfer in Anbetracht der Tatsache, welchen Hirnfurz ich hier gerade von mir gebe. Nora und Falco schauen hingegen sehr andächtig und nicken mir verständnisvoll zu. Ich sollte besser schnell zum Ende kommen, bevor ich noch den Schneider und Schuster ins Handwerkerrennen des Kinderreims schicken muss.
»So nehmt denn die Kinder unseres Herrn als Vorbild und gehet hin in Frieden. Amen.«
Ich wische mir mit der rechten Handinnenfläche über die schweißnasse Stirn und gebe Hubsi ein Zeichen, der aufgrund meiner theologischen Exkursion noch immer verschreckt beide Hände vor den Mund hält. Auch für ihn war diese Predigt bisher wohl unbekannt. Schließlich erwacht er doch noch aus seiner Schockstarre, und die ersten Orgeltöne erklingen, die mir seltsam bekannt vorkommen. Währenddessen beginne ich mit der Wandlung. Zu diesem Zweck habe ich mir in alter Schultest-Tradition einen Spicker in die Handinnenflächen geschrieben. Links den Wandlungstext der Oblaten, rechts den Spicker für das Spektakel: Blut zu Wein. Ich schiele in meine linke Handinnenfläche und spreche die Worte: »Denn am Abend, an dem er ausgeliefert wurde und sich aus freiem Willen dem Leiden unterwarf, nahm er das Brot und sagte Dank, brach es, reichte es seinen Jüngern und sprach: NEHMET UND ESSET ALLE DAVON: DAS IST MEIN LEIB, DER FÜR EUCH HINGEGEBEN WIRD . Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch, dankte wiederum, reichte ihn seinen Jüngern und sprach.«
Meine Performance ist gefühlt verdammt nah am Original, denke ich, während ich zum Kelch greife. Ich bin mit mir zufrieden. Nachdem ich das Brot nun so perfekt gewandelt habe, ist jetzt das Tetrapack-Gesöff dran. Das heißt … Nein! Ich schaue entsetzt in meine rechte Handinnenfläche, als hätte man mir gerade einen rostigen Nagel hindurchgetrieben. Denn während links noch alles gut zu lesen war, stellt sich das Schweißabwischen auf der Stirn nun als fataler Fehler heraus. Der Text ist verwischt! Alles, was in meiner Hand noch zu entziffern ist, sind die Wortbruchstücke: »Nehmet und trinket alle daraus … neuen und ewigen … für euch und für alle … vergossen wird … Sünden … Gedächtnis.« Da muss ich wohl gehörig improvisieren. Ich räuspere mich und recke im Anschluss mit pastoralem Blick den Judopokal in alle Himmelsrichtungen.
»Ähm, nehmet und trinket alle daraus. Und keine Angst, das ist ein neuer und ewiger Kelch. Gefüllt mit teurem Wein, der für euch und für alle hier reichen sollte. Sehet zu, dass davon nichts vergossen wird. Denn das wäre echt schade und eine Sünde und bliebe mir sicher im Gedächtnis.«
Vorsichtig schiele ich über den Kelchrand und sehe verstörte Gesichter. Okay, vielleicht habe ich den Text jetzt nicht so ganz eins zu eins wiedergegeben, aber so falsch kann es nun auch wieder nicht gewesen sein, oder? Ich blicke hinauf zum Kreuz und hoffe, dass Jesus mir nicht böse ist, wobei ich eher das Gefühl habe, dass er mir gerade recht amüsiert von hinten über die Schulter schaut. Nachdem ich zwei Schluck Rotwein getrunken habe, nehme ich die Oblaten und gehe die Stufen zu meiner Gemeinde hinunter. Dabei glaube ich die Anfangsakkorde von»Highway to Hell« in einer skurrilen Orgelversion zu erkennen. Ich schaue missbilligend zu meinem
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