Lippenstift statt Treppenlift
und wartet. Na gut: Wahrscheinlich sitzt sie schon seit vier Stunden so da, aber was soll’s. Dann lässt sie sich ohne Gegenwehr zum Auto führen und zum Biergarten fahren. Und dann genießt sie auf Kommando den Tag und freut sich, mit der Familie und insbesondere den Enkeln zusammen zu sein.
Noch vor etwa einem Jahr war das nicht möglich, da musste man Mama grundsätzlich besuchen, wenn man sie sehen wollte oder sie uns. Gerade im Sommer ist es aber nicht immer angenehm, Mama in ihrer stickigen Wohnung zu besuchen. Besonders schwer ist es, die restliche Familie dazu zu bringen.
Es läuft ungefähr so ab:
»Heute müssten wir unbedingt mal wieder die Oma besuchen«, sage ich.
»Da fällt mir gerade ein, dass ich fest versprochen habe, einem Ex-Arbeitskollegen beim Umzug zu helfen. Und dann muss ich unbedingt noch ungeheuer viele Mails fürs Büro schreiben«, sagt mein Mann und ward den Rest des Tages nicht mehr gesehen.
»Ich kann jetzt auch gar nicht, bin zum Lernen verabredet«, sagt meine Tochter und packt schon ihre Tasche.
Nur mein Sohn sitzt mit langem Gesicht da und weiß: Er kommt aus der Sache nicht raus. »Du darfst auch dort fernsehen«, tröste ich ihn dann, und er nickt ergeben und sagt: »Aber wir bleiben nur zwei Stunden! Auf keinen Fall länger!«
Es ist ja nicht so, dass die Kinder ihre Oma nicht mögen würden – es ist nur schwer, es im Sommer in ihrer Wohnung auszuhalten. In Omas Wohnung herrscht nämlich schon seit ein paar Jahren ewiger Winter: Die Fenster sind geschlossen, die Vorhänge zugezogen, die Stimmung grau in grau.
Vom Wohnzimmer aus geht eine Glastür auf Mamas Balkon, der ist nicht groß, aber auf der Südseite. Früher hat sie sich dort gesonnt, es gab eine Liege und Pflanzen. Irgendwann, vor sehr langer Zeit (kann sein, dass es noch die Achtzigerjahre waren), tropfte etwas Gießwasser von den Blumenkästen nach unten zu dem Nachbarn, der in der Erdgeschosswohnung lebte und der seinerseits gerade auf der Sonnenliege lag, und darüber war dieser kurz ein wenig ungehalten. Es war aber kein besonders großer Vorfall.
Der Mann von unten ist längst ausgezogen, zwei bis drei andere Mieter folgten, und heute weiß von uns keiner mehr, wie der damalige Nachbar aus dem Erdgeschoss überhaupt hieß. Auch Mama nicht. Nur: Seither betritt sie den Balkon nicht mehr. Es gibt keine Pflanzen mehr, sie sonnt sich nicht mehr. Ein paar Mal schon wollte meine Schwester Lisa die Sache in die Hand nehmen und einfach auf eigene Faust alles begrünen, damit Mama sich da draußen wieder wohlfühlte, aber Mama flippte bei dem Vorschlag regelrecht aus. So groß ist ihre Angst vor Ärger wegen Gießwasser – sogar mit Nachbarn, die längst ausgezogen sind.
Jedenfalls ist es total deprimierend, an einem Sommertag in Mamas Winterwohnung zu kommen, in den Schatten, wo die Luft steht und permanent der Fernseher läuft. Es ist immer wie ein Krankenbesuch, denn egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man ankommt, und egal, ob sie Schmerzen hat oder nicht: Mama liegt auf dem Sofa.
»Wenn ich nicht auf dem Sofa liegen kann, tut mir der Rücken weh«, sagt sie. Ich denke aber, es ist eher umgekehrt. Jeder, der auch nur kurz auf diesem ausgeleierten Sofa herumliegen würde, müsste zwangsläufig Rückenschmerzen bekommen. Aber Mama lässt sich nicht davon abhalten, jeden Tag auf diesem alten beigefarbenen Cord-Ding zu verbringen. Und wir dürfen natürlich auch kein neues kaufen. So schicke Sofas wie dieses alte Monstrum werden heute nämlich gar nicht mehr hergestellt, findet Mama.
Wenn ich dann sage, sie bräuchte Bewegung, dann antwortet sie nur: »Aber ich bewege mich enorm. Jeden Tag gehe ich tausend Schritte!«
Das tut sie wirklich, es ist ihr Frühsport. Sie denkt, dass müsse genügen, um gesund zu bleiben: Sie geht immer vom Wohnzimmer ins Esszimmer und zurück, hin und her, auf Strümpfen, mit winzig kleinen, entschlossenen Schrittchen.
Tausend Schritte: Das klingt viel. » TAUSEND SCHRITTE (!!!) bin ich heute wieder gegangen«, rühmt sich meine Mutter mehrfach am Tag. »Ist das etwa nichts?«
Es ist nichts: Bei der Größe ihrer Schrittchen sind es vielleicht zweihundert Meter pro Tag. Das legt man auf der Straße in rund drei Minuten zurück. Aber das will sie mir nicht glauben. Sie denkt, tausend Schritte wären wahnsinnig viel.
Mama macht noch mehr merkwürdige Dinge, ich wage fast nicht zu gestehen, wie merkwürdig sie sind – regelrecht peinlich. Aber ich glaube, alle alten Leute
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