Lipstick
haben!
Ich legte die Postkarte (eine St. Pauli-Karikatur, die er auch noch gratis in einer Kneipe erstanden hatte) an der äußersten Kante meines Schreibtisches ab, und obwohl ich immer verärgerter wurde, brachte ich es nicht fertig, das Ding einfach wegzuwerfen. Irgend etwas ließ mich immer wieder fasziniert draufstarren. Vielleicht war es die großzügige, weiche Frauenhandschrift, vielleicht auch die altmodische Art, in der er den Brief beendete. »Herzlich, Ihr Jan.« Der Satz kam mir immer wieder in den Sinn, während ich versuchte, mich in das gnadenlose Seifernopernkonzept eines Ralf Witthusen einzuarbeiten, in den Aufstieg und Fall zweier Familien namens Berghusen und Wittgenstein – letztere warennatürlich adelig und wohnten in einem schloßähnlichen Gebilde. Obwohl die Berghusens finanziell gesehen wirklich arme Schlukker waren, bewohnten sie eine riesige Loftwohnung im Herzen Berlins, in der man je nach Belieben verschollen geglaubte Verwandte oder wiederauferstandene Exlover aufnehmen konnte.
Ich war gerade noch beim Durcharbeiten der Bibel, die langsam von Sätzen wie »Herzlich, Ihr Jan« überzuquellen begann, als das Telefon läutete. Eine Viertelminute später stand Tom in meinem Zimmer und hielt mir den Hörer hin. Mein Herz fing an zu jagen, obwohl es eigentlich keinen Grund dazu gab.
Pauls Stimme kam wie von einem anderen Kontinent.
»Wo bist du?« schrie ich in den Hörer.
»In der Telefonzelle gegenüber.«
»Was?« schrie ich weiter, weil ich es nicht glauben wollte, erhob mich aber, ging zum Fenster und sah in der Telefonzelle gegenüber tatsächlich ein kleines Männchen mit nackten Beinen und in leuchtendweißen Turnschuhen stehen.
»Kann ich eine Sekunde raufkommen?«
»Aber wirklich nur eine Sekunde. Ich habe einen Batzen Arbeit zu erledigen …« Da hatte Paul jedoch schon eingehängt, und ich machte mich daran, alle Spuren in meinem Zimmer zu beseitigen. Das heißt, eigentlich war es ja nur eine Spur, Jans Karte. Warum tat ich so, als sei sie genauso brisant wie ein halbes Kilo Kokain?
»Kannst du dir nichts Vernünftiges anziehen?« begrüßte ich Paul kurz darauf an der Haustür. Ich haßte Männer, die sich kein bißchen darum scherten, was für einen Anblick sie ihrem Gegenüber zumuteten.
Paul guckte irritiert an sich runter und mochte nicht reinkommen, vielleicht fühlte er sich durch Tom verunsichert, der kurz in den Flur gewinkt hatte und dann im Badezimmer abgetaucht war.
»Lust auf einen Spaziergang?«
»Ich sagte doch, ich muß arbeiten«, motzte ich und bugsierte Paul in mein Zimmer. Es war seltsam, daß wir nach so langer Sendepause gleich unseren alten barschen und direkten Ton wiederfanden. »Warum bist du in der Disko eigentlich abgehauen?«
Paul setzte sich auf mein quietschendes Rattansofa – ein Überbleibselaus Studententagen –, ich drückte ihm eine Flasche Mineralwasser in die Hand und fläzte mich neben ihn.
»Du glaubst wohl, ich bin blind!«
»Wie meinst du das?«
Paul lächelte nur vielsagend. Ich verstand das nicht, hatte er doch zu dem Zeitpunkt absolut nichts wissen können.
»Und was verschafft mir die Ehre?« versuchte ich vom Thema abzulenken.
Paul stand wieder auf und schüttelte, während er zum Fenster ging, die Wasserflasche, hielt gleichzeitig den Daumen auf die Öffnung.
»Daß Hans sein Herz an dich verloren hat.« Er drehte sich ruckartig um und spritzte mir eine Ladung Wasser ins Gesicht, was ich wohl urkomisch finden sollte.
Mit dem Ärmel wischte ich mir das Zeug weg. »Und du bist also der Liebesbote. Erinnert mich an ein ähnliches Vorkommnis, als ich zwölf war.«
»Hans ist ein Sensibelchen.«
»Aber ziemlich langweilig.« Und ich fügte abschwächend hinzu:
»Unter Umständen …«
»Was für ein Verhältnis hast du eigentlich mittlerweile zu deinem Butler?«
Ich mußte lachen. Tom und Paul hatten sich schon früher nicht ausstehen können. »Wüßte ich selbst gern. Tom ist irgend etwas zwischen Ehemann, Berater und Bügelhilfe.«
Paul hatte durchaus Verständnis dafür, daß ich einen solchen Mann nicht gern laufenließ, wenngleich er sich fragte, wo denn der Rest blieb, der sich Liebe nannte. Unverzüglich klärte ich ihn darüber auf, daß man Liebe heutzutage an jedem Zeitungskiosk kaufen könne, ganz zu schweigen vom Fernsehen, wo die Seifenopern einen täglich und zu jeder Stunde bis zum Anschlag mit Gefühlen abfüllten. Das sah Paul ein. Wozu brauchte man noch einen Menschen aus Fleisch und Blut
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