Lipstick
all die schrecklichen Videokassetten auf meinem Schreibtisch ein, aber da ich es schon immer bestens vermocht hatte, Unangenehmes zu verdrängen, verschwendete ich keinen weiteren Gedanken daran, sondern genoß einfach weiter das Flirren der Kiste und den zähen Käsematsch auf meiner Pizza.
Liebe! Tatsächlich war ich kurzzeitig der schönen Illusion erlegen gewesen, hatte geglaubt, daß Jan ein Mann sein könnte, bei demes sich lohnte, Gefühle zu investieren, ein richtiger Mann, intelligent und mit dem gewissen werbungstauglichen Etwas, um dann feststellen zu dürfen, daß er sich auch nur als Idiot entpuppte.
Schöne Liebe! Dann konnte ich ebensogut mit Tom vorliebnehmen, vielleicht wollte er ja auch gar nicht mehr mit seiner Rita rumbumsen … Hier hatte ich wenigstens meine Ruhe und meine Freunde, niemand redete mir rein, ob ich nun Gummibärchen zuhauf aß oder arbeitete oder putzte oder es einfach bleiben ließ – was braucht der Mensch mehr?
Tom fing plötzlich ein ernsthaftes Gespräch über die Enwicklung der Fernsehlandschaft an. Ich ließ mich darauf ein und sagte ihm, wie beängstigend ich die Anhäufung exhibitionistischer Talkshows fand. Tom widersprach. Ein bißchen Sensation im Fernsehen sei immerhin besser als die Langeweile einer Arztserie.
Was wollte Tom eigentlich von mir? Mich wie früher mit einem Streitgespräch aus der Reserve locken? Oder war es eine Art Annäherung? Schon damals hatte er gern stundenlang Fernsehen geguckt und mir später jeden Film im Detail nacherzählt.
»Talkshow oder Daily?«
»Daily.«
»Warum?« Tom nahm sich ein neues Stück Pizza und biß derart unkontrolliert ab, daß ein paar Champignons aufs Sofa fielen.
»Weil ich dafür schreibe, du Depp.«
»Aber Schwachsinn bleibt es trotzdem.«
»Gar nicht wahr«, sagte ich trotzig. »Was meinst du, wie schwer es ist, nach vorgegebenen Handlungssträngen einigermaßen funktionierende Dialoge auszutüfteln.«
»Ach. Und ich dachte, das kann jeder.«
»Wenn es jeder könnte, würde es auch jeder tun. Allein schon der Bezahlung wegen.«
Wir aßen weiter, und ich nahm mir vor, auf das Gesabbel eines Tom, der sich auf sein Jurastudium soviel einbildete wie ein Finanzminister auf die Senkung des Soli, gar nichts zu geben.
»Solltest vielleicht vor die Kamera wechseln, Süße.«
Süße. Das Kosewort hatte er bestimmt seit siebeneinhalb Jahren nicht mehr in den Mund genommen.
»Dafür schiele ich einfach zu stark.«
»Du weißt genau, daß du nicht schielst.« Tom beugte sich vor und gab mir ein Küßchen auf den Mund, das ziemlich nach Salami roch. Flashback: mit Tom und Pizza nach dem ersten Mal im Bett. Fütterung einer Unersättlichen – ich konnte mich nur noch schwach dran erinnern. Thunfisch gegen Quattro Stagioni. Für Tom war Pizza immer das gewesen, was für andere Pornos sind, und der Käse-Tomaten-Geschmack in meinem Mund brachte ihn derart auf Touren, daß ich jedesmal danach drei Tage lang nicht mehr laufen konnte.
Tom langte schon wieder nach einem Stück Pizza, dann hielt er plötzlich im Kauen inne und sagte vollkommen ernst: »Komm doch, Baby …«
Wahrscheinlich versuchte er sich gerade in einem betörenden Gesichtsausdruck. Ich mußte lachen. Was neulich noch funktioniert hatte, war jetzt einfach nur noch albern.
»Ach, Tom!« Ich kuschelte mich in seinen Arm und steckte ihm den Rest meines Pizzastücks in den Mund. »Lassen wir es bleiben.«
Tom hielt mich weiter fest, während er mich mit leicht trauriger Stimme fragte, was ich denn am Laufen hätte.
»Nichts.«
»Ehrlich?«
Ich mußte ganz plötzlich an Jan denken und spürte einen Klumpen im Magen.
»Und wenn es anders wäre, ich könnte sowieso nicht mit dir darüber reden.«
»Schade.« So treuherzig, wie er das hervorbrachte, schien er es tatsächlich ernst zu meinen. Zumindest in dieser Sekunde.
»Der Zug ist für uns abgefahren. Du hast zu viele Ritas vernascht. Wir leben, wie wir leben, und mir gefällt das so.«
Tom stand auf, schaltete den Fernseher aus und ging dann für eine ganze Weile aus dem Raum. Als er zurückkam, hatte er eine Flasche Sekt in der Hand.
Ich kniete mich aufs Sofa und preßte eines der Kissen auf meine Knie. »Sag schon – was ist los?«
Tom ließ den Korken geräuschvoll rausploppen und goß den Sekt in zwei Saftgläser.
»War schön mit dir neulich …«
Was wollte er nur retten? Unsere Liebe von damals? Merkte er gar nicht, wie lächerlich das war, so viele Jahre zu spät?
»Mensch, Tom!
Weitere Kostenlose Bücher