Lipstick
Hunger?« fragte er, nachdem er mich eine geschlagene Stunde mit seinem Schweigen beglückt hatte.
»Ich habe immer Hunger.«
Jan sah mich von der Seite an, als hätte ich gerade eine wahnsinnig philosophische Bemerkung gemacht.
»Dann essen wir jetzt irgendwo.«
»Einverstanden.«
Jan nahm die nächste Abfahrt – wir waren noch vor Mailand –, und ich fragte dezent an, wo er denn eigentlich zu übernachten gedenke.
»Wieso – wir fahren durch!«
Nicht schon wieder diese Nummer, dachte ich, hielt aber – warum auch immer – meinen Mund.
Während wir eine etwas heruntergekommene Pizzeria betraten, erzählte er mir von einem Termin, den er angeblich morgen abend in Hamburg habe. Ich glaubte ihm nicht. Davon war nie die Rede gewesen. Warum wollte er sich plötzlich nicht mehr irgendwo nett mit mir einquartieren?
Wir bestellten nur einen Viertelliter Chianti, Wasser, Tomatensalat und Pizza mit Ruccola. Schon nach dem ersten Schluck Wein warJan wieder ganz der alte. Jungenhaftes Grinsen, Lachfältchen um die Augen, und während wir auf das Essen warteten, wollte er mir die Geschichte seiner Entjungferung erzählen, obwohl mich das nicht besonders interessierte.
»Das Mädel war neunzehn und ich sechzehn.«
»Nicht umgekehrt?«
»Sei nicht so zynisch.«
»Ich finde, das hat überhaupt nichts mit Zynismus zu tun. Warum müssen Männer immer den Helden markieren?«
»Und ich finde, es hat nichts mit den Helden markieren zu tun, wenn ich dir erzähle, daß ich als Sechzehnjähriger von einer Neunzehnjährigen entjungfert wurde.« Jan trank einen Schluck Wasser. »Es war eben so und nicht anders.«
»Okay, dann schieß mal los.«
Jan zierte sich noch ein wenig – in der Zwischenzeit servierte der Kellner die Pizzen –, bevor er mir die Story von der Freundin seiner großen Schwester auftischte, die eines Nachmittags bei ihm reingeschneit war, obwohl sie hätte wissen müssen, daß sie nur ihn antreffen würde.
»Und dann? Wo ging’s zur Sache?«
»Ganz langweilig. Auf meinem Bett. Ich bin nach schätzungsweise fünf Sekunden gekommen, sie hat sich angezogen und mich von dem Moment an wieder nur als den doofen kleinen Bruder betrachtet.« Jan packte seine Gabel mit der Faust und jagte sie mitten in die Pizza. »Was dazu geführt hat, daß ich jahrelang den Komplex hatte, im Bett nichts zu taugen.«
»Das nächste Mal war also mit vierundzwanzig?« fragte ich spitz und angelte mit den Fingern eine Tomatenscheibe vom Salatteller.
»Zwanzig.«
»Glaube ich dir nicht.«
»Doch, ich schwöre! Vier Jahre lang bin ich ohne irgendein weibliches Wesen durch die Gegend gelaufen.«
»Und wie war das zweite Mal?«
»Genauso schrecklich. Aber ich hatte das Glück … Das Mädchen hatte auch nicht mehr Erfahrung als ich.« Jan nahm jetzt seinMesser zur Hand, schnitt aus der Mitte der Pizza ein kleines Dreieck heraus und betrachtete es ganz verzückt, bevor er es sich in den Mund steckte.
»Wir haben lange gebraucht, bis wir den Dreh raus hatten.«
»Dann hast du ja inzwischen einiges dazugelernt«, murmelte ich.
»Wie?« Jan kaute langsam und konzentriert.
»Können wir nicht irgendwo in der Gegend übernachten? Ich bin hundemüde.« Ganz automatisch griff ich nach Jans Hand und streichelte sie.
»Wenn du willst … Vielleicht haben sie ja hier ein Zimmer.«
Ich war über Jans plötzliches Einlenken ziemlich überrascht und hielt ihn nicht davon ab, den Mann hinterm Tresen nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu fragen. Jan fuchtelte dabei wild mit den Händen, was mit typisch italienischem Fuchteln erwidert wurde, dann kam er freudestrahlend zurück.
»Es gibt keine Zimmer, aber sie machen extra für uns eins zurecht.«
»Mit Dusche?«
»Keine Ahnung. Wird sich zeigen.«
Jan legte beim Aufessen seiner Pizza einen so plötzlichen Eifer an den Tag, daß ich mich nur wunderte. Erst wollte er unbedingt durchfahren, um seinen imaginären Termin wahrzunehmen, jetzt schien er sich nichts dringender zu wünschen, als in ein frischbezogenes Bett zu steigen. Wir tranken noch einen Espresso und einen Grappa und ließen uns dann von der Herrin des Hauses das Zimmer zeigen. Zu diesem Zweck mußten wir quer durch das Wohnzimmer der Wirtsleute, in dem zwei halbwüchsige Schönheiten vor dem Fernseher lümmelten, und dann eine schmale Holztreppe hochsteigen, die auf einen düsteren Gang führte, an dessen Ende das Zimmer lag. Es war klein, geradezu winzig, und irgendwie roch es nach Sägespänen. An der Wand stand
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