Lisa geht zum Teufel (German Edition)
Durch die Scheibe beobachtete er den Jungen, der auf seine Armbanduhr sah und anscheinend die Sekunden zählte. Dann ging er zu Carmens Haus und klingelte. Rafael spürte vor Aufregung seine Halsschlagader pochen. Wie würde Carmen wohl reagieren? Wie oft hatte er sich in den letzten Tagen diesen wunderschönen Moment ausgemalt. Aber es passierte rein gar nichts! Der Junge klingelte noch mal.
»Buenos días, señor. ¿Qué desea?«, fragte ihn ein Ober, den Rafael nur aus den Augenwinkeln wahrnahm.
»Un café moca«, sagte er eilig.
»Muy bien, señor.« Der Ober nickte und verschwand in Richtung Theke.
Wieder und wieder klingelte der Junge. Er sah zu ihm her, zuckte mit den Schultern und klingelte erneut. Nichts! Konnte man sich denn nicht wenigstens einmal, wenn es wirklich wichtig war, auf die Jungfrau Maria verlassen?
Gut, dass Rafael alles so detailliert mit Delia durchgesprochen hatte. Lisa wusste, wo und wann Rafael bei seiner Tochter auftauchen würde. Mit dem Taxi war es nur eine kurze Fahrt von ihrem Hotel in der Madrider Innenstadt gewesen, um das heruntergekommene Viertel zu erreichen, in dem Carmen wohnte. Und wie froh war sie jetzt, dass sie früher als erwartet angekommen war. Umso mehr, weil sie gerade von ihrem Platz in der hintersten Ecke des Cafés aus mitbekam, dass Rafaels Plan scheiterte. Bisher hatte der Trick mit der aufgeschlagenen Tageszeitung, die man sich wie in einem schlechten Detektivfilm vors Gesicht hielt, um nicht erkannt zu werden, gut funktioniert – ganz im Gegensatz zu Rafaels ursprünglichem Plan. Von dem kleinen Jungen, den er engagiert hatte, um bei Carmen zu klingeln, stand nichts in Delias Instruktionen. Dass Rafael den Kaffee beinahe verschüttete, als er die Tasse hochnahm, sprach dafür, wie nervös er war.
Der kleine Junge tat Lisa aber im Moment fast noch mehr leid. Mit hängenden Schultern trat er vor die Scheibe des Cafés und kramte den Fünf-Euro-Schein heraus, den er Rafael hinhielt. Rafael schüttelte den Kopf und winkte ab. Das konnte nur bedeuten, dass der Junge das Geld behalten durfte, zumindest las sie es von seinen Lippen. Die laute Musik, die das Café erfüllte, machte es unmöglich, etwas zu hören. Allerdings passte der Song ziemlich treffsicher zu dem, was gleich passieren würde. Sie kannte den Song der spanischen Rockband, die sich »La Oreja de Van Gogh« nannte. Es ging in dem Lied um ein Mädchen, das auf allen Partys weinte. »La niña que llora en tus fiestas«, hieß es. Ob Carmen der Typ war, der nahe am Wasser gebaut war, wusste Lisa nicht. Dass die junge Frau, die auf einem Bistrostuhl neben ihr kauerte, um auch hinter der Zeitung Schutz vor Rafaels Blicken zu finden, kurz davorstand, laut loszuschluchzen, war aber so gut wie sicher.
»Nun geh schon«, sagte Lisa zu ihr. »Dein Vater kriegt sonst noch einen Herzinfarkt.«
Carmen rührte sich aber nicht von der Stelle.
Jetzt gib dir endlich einen Ruck, dachte Lisa. Sie wollte das Nervenbündel neben sich loswerden, weil es nicht mehr lange dauern würde, bis ihr die Arme abfielen. Eine Zeitung so zu halten, dass sich gleich zwei Personen dahinter verstecken konnten, war verdammt anstrengend. Carmen saß zudem so dicht an ihr dran, dass sich ihre Aufregung auf sie übertrug. Ein wippendes Bein am eigenen Bein zu spüren konnte einen in den Wahnsinn treiben.
Rafael bemerkte sie immer noch nicht. Er saß zusammengesunken vor seinem Kaffee und starrte aus dem Fenster. Hoffentlich traf ihn nicht der Schlag, wenn er plötzlich seine Tochter vor sich sah – falls sie denn mal aufstand und sich zu ihm hinüberbewegte. Im Moment schien das junge Ding jedenfalls noch am Stuhl festgewachsen zu sein, ganz im Gegensatz zum frühen Morgen, als sie Lisa quietschvergnügt nach einer durchzechten Chuca-Nacht direkt in die Arme gelaufen war. Sie hatte Carmen von dem Foto, das ihr Rafael im Park gezeigt hatte, gleich erkannt und sie ohne zu zögern angesprochen. Den Wagen einfach so abzustellen und ein Treffen mit Carmen zu vermeiden kam nicht in Frage. Dafür hatte Lisa gesorgt.
Endlich fasste Carmen sich ein Herz, stand auf und ging zu ihm.
So unbeholfen und aufgeregt, wie sie da stand, suchte sie offenbar nach den richtigen Worten, um ihren Vater anzusprechen. Doch Rafael drehte sich schon nach ihr um und sah sie an wie einen Geist.
»Carmen?«
Seine Tochter nickte, und Lisa konnte sehen, dass das Mädchen die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Rafael saß wie erstarrt da.
»¿Papa …
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