Lisa geht zum Teufel (German Edition)
vertreiben konnte.
Gleich nachdem sie am zentral gelegenen Bahnhof Atocha ausgestiegen waren, stellte Rafael fest, dass Madrid noch genauso quicklebendig pulsierte, wie es ihm in Erinnerung geblieben war. Die Metropole im Herzen Spaniens hatte nichts von ihrer Schnelllebigkeit verloren. Im Vergleich dazu schienen die Uhren in allen anderen spanischen Städten deutlich langsamer zu gehen. Madrid, das waren fünf Millionen Menschen in Bewegung, und ein großer Teil davon eilte gerade geschäftig durch einen der schönsten Bahnhöfe Europas. Die großzügige Dachkonstruktion aus Gusseisen und Glas umspannte eine Bahnhofshalle im Jugendstil, die sogar mit einem tropischen Palmengarten aufwarten konnte, der als Wartehalle diente und an dessen Flanken viele Geschäfte zu einem Einkaufsbummel oder einem Imbiss einluden. Von dort aus war es nur ein Katzensprung zum botanischen Garten oder dem berühmten Prado, einem der schönsten Museen Spaniens. Zehn Jahre seines Lebens hatte er in Madrid verbracht, und wie oft war er hier am Bahnhof gewesen, um Geschäftspartner zu treffen, die Eltern seiner Frau abzuholen oder berufsbedingt selbst einen Schnellzug zu nehmen. Genau vor diesen Erinnerungen hatte er Angst. Sie waren unkontrollierbar und hielten ihm vor Augen, was für ein schönes Leben er hier geführt hatte. Lisa schien es ähnlich zu gehen. Sie nippte still an ihrer Tasse Kaffee, die sie in einem der Bahnhofscafés im Palmengarten bestellt hatte, und sah wie in Trance auf die hastenden Menschen.
»Ist es nicht beängstigend, dass sich manche Dinge nie ändern?«, fragte sie urplötzlich.
Rafael verstand nur zu gut, was sie damit meinte. Man selbst war ein anderer geworden und hielt es für unmöglich, dass andernorts alles beim Alten geblieben war. Man fühlte sich wie in einer Zeitmaschine und hatte Mühe, sich der Flut von Bildern und Emotionen zu entziehen.
»Felipe hat mich hergebracht, wenn er keine Lust hatte, mich nach Marbella zu begleiten. Ich fing an, diesen Bahnhof zu hassen, weil er mir klarmachte, wie allein ich war.«
»Wann wirst du ihn sehen?«, fragte Rafael.
»Gegen fünf«, erwiderte sie knapp.
»Hast du etwa schon mit ihm telefoniert?«, fragte er und hoffte inständig, dass sie Felipe seinen Besuch nicht gleich noch mit angekündigt hatte.
»Wo denkst du hin?«, erwiderte sie schmunzelnd. »Ich hab mich als Kaufinteressentin für Immobilien in Toplagen ausgegeben. Seine Sekretärin hat mir daraufhin gleich einen Termin gegeben.«
»Soll ich dich begleiten?«, fragte er rein pro forma, um keinen Verdacht zu erregen, auch wenn ihm dabei gar nicht wohl war.
»Nein. Es ist besser, wenn ich Felipe allein spreche. Oder möchtest du ihn unbedingt sehen?«
»Nach dem, was ich jetzt von ihm weiß … Kein Bedarf. Er hat Delia und mich instrumentalisiert – gegen dich. Das ist an sich schon unverzeihlich«, sagte er und fühlte sich um eine weitere Last des Lügengebälks, die er seit Tagen mit sich herumtrug, erleichtert.
»Was machen wir jetzt? Wir haben noch Zeit.« Noch ein paar Stunden in einem Bahnhof abzusitzen, wenn draußen die Sonne schien, kam nicht in Frage.
»Auf alle Fälle ein bisschen Kraft tanken. Die werd ich heute noch brauchen. Lass uns in den Parque del Retiro gehen«, schlug Lisa vor.
Rafael nickte, auch wenn dort schmerzliche Erinnerungen auf ihn warten würden, aber letztlich war ein Ort so schlimm wie jeder andere, also winkte er den Ober herbei, um zu bezahlen.
Lisa genoss den kurzen Spaziergang auf der Calle del Alfonso XII, die zum Parque del Retiro führte, der grünen Lunge Madrids mit ihren prächtigen Palacios und Gärten. Auch wenn Rafael darauf beharrte, dass Madrid sich überhaupt nicht verändert hätte, machte hier das Straßenbild einen ganz anderen Eindruck als in der Zeit, in der sie mit Felipe in Madrid gelebt hatte. Obdachlose und Bettler waren früher in dieser Gegend eine Rarität gewesen. Jetzt lag viel mehr Müll auf den Straßen. An dem einen oder anderen Gebäude fehlte ein frischer Anstrich. Nach Prachtstraße sah das jedenfalls nicht mehr aus. Was war nur aus der kleinen verträumten maurischen Siedlung des 9. Jahrhunderts geworden? Von hier aus hatten die Spanier im Mittelalter ein Weltreich regiert, und nun regierte die Korruption. Felipe hatte ihr erzählt, dass es in Spanien siebenmal so viele Politiker pro Kopf der Bevölkerung als beispielsweise in Deutschland gab. Er musste es ja wissen, denn bestimmt hatte jeder Dritte von ihnen bereits
Weitere Kostenlose Bücher