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Little Bee

Little Bee

Titel: Little Bee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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schrecklich, dass ich dem Mann nicht half, aber ich fühlte mich zwischen zwei Arten von Scham hin und her gerissen. Einerseits war da die Schande, einer menschlichen Pflicht nicht zu genügen, andererseits der Wahnsinn, als Erste in der Menge etwas zu tun.
    Ich lächelte dem weinenden Mann hilflos zu und musste die ganze Zeit an Andrew denken.
    Sowie man aus dem Untergrund auftaucht, kann man die menschlichen Pflichten natürlich schnell vergessen. London ist eine wunderbare Maschine, wie dafür geschaffen. An diesem Morgen war die Stadt hell, frisch und einladend. Ich war aufgeregt wegen der Juni-Ausgabe und rannte förmlich die letzten zwei Minuten bis zum Büro. An der Fassade des Gebäudes stand der Name unserer Zeitschrift, NIXIE, einen Meter hoch in Neonpink zu lesen. Ich blieb einen Augenblick draußen stehen und atmete tief durch. Die Luft war still, und man konnte trotz des Verkehrs das Neon summen hören. Ich stand da, die Hand an der Tür, und fragte mich, was Andrew hatte sagen wollen, bevor ich das Haus verlassen hatte.
    Mein Mann war nicht immer um Worte verlegen gewesen. Die langen Schweigeperioden begannen erst an dem Tag, an dem wir Little Bee begegneten. Davor hielt er nicht eine Minute den Mund. In unseren Flitterwochen redeten wir ununterbrochen. Wir wohnten in einer Villa am Strand, tranken Rum und Limonade und redeten so viel, dass ich nicht einmal bemerkte, welche Farbe das Meer hatte. Wann immer ich innehalten und mir in Erinnerung rufen muss, wie sehr ich Andrew einmal geliebt habe, brauche ich nur daran zu denken. Dass sieben Zehntel der Erdoberfläche von Ozean bedeckt sind und ich ihn dank meines Ehemanns nicht einmal bemerkte. So groß war er damals für mich. Als wir in unser neues Haus in Kingston zurückkehrten, fragte ich Andrew nach der Farbe des Flitterwochenmeeres. Hm, war es blau?, fragte er. Ich sagte: Komm schon, Andrew, du bist ein Profi, das kannst du doch besser. Und Andrew erwiderte: Na gut, also: die ehrfurchtgebietende Weite des Ozeans war ein Gepränge aus Ultramarin, gekrönt von Karminrot und Gold, wo die polierte Sonne auf den Wellenkämmen loderte, bevor sie in die düsteren Tiefen stürzten und sich zu einem finsteren, unheilvollen Indigo verdunkelten.
    Er verweilte beim vorletzten Wort und senkte die Stimme in komischem Bombast, wobei er die Augenbrauen hob. INNDIGO, dröhnte er.
    Natürlich weißt du, warum ich das Meer nicht bemerkt habe. Mein Kopf steckte zwei Wochen lang immerzu -
    Nun, wo der Kopf meines Mannes in diesen zwei Wochen steckte, bleibt unser Geheimnis.
    Wir kicherten wild und rollten auf dem Bett herum, und dann wurde Charlie, unser lieber Charlie, gezeugt.
    Ich stieß die Tür auf und betrat die Eingangshalle. Der Boden aus schwarzem, italienischem Marmor war das einzige Detail, das unseren Einzug überlebt hatte. Der Rest war Nixie pur. An einer Wand stapelten sich Kartons mit Modellen von Möchtegern-Couture-Firmen. Eine Praktikantin hatte sie mit fettem blauem Marker beschriftet: JA FÜR AUFNAHMEN BEHALTEN oder LIEBER NICHT oder das triumphierend absolutistische DAS IST KEINE MODE. In einer Otagiri-Vase mit goldenem Krakelier-Lack stand ein abgestorbener Wacholder-Bonsai, an dem noch drei glitzernde Weihnachtskugeln hingen. Die Wände waren in Fuchsia gehalten und mit bunten Glitzerlichtern dekoriert, und selbst im dämmrigen Sonnenschein, der von der Commercial Street durch die getönten Fenster fiel, wirkte die Wandfarbe fleckig und schäbig. Ich kultivierte diesen leicht ramponierten Look. Nixie wollte nicht wie andere Frauenmagazine sein. Sollten die doch mit ihren makellosen Eingangshallen und den spießigen James-Stühlen glücklich werden. Als Chefredakteurin war es mir allemal lieber, wenn meine Mitarbeiterinnen helle waren und die Eingangshalle schlampig.
    Clarissa, meine Feature-Redakteurin, kam gleich nach mir durch die Tür. Wir küssten uns einmal, zweimal, dreimal - wir waren seit der Schule befreundet -, und sie hakte sich bei mir unter, als wir die Treppe hinaufgingen. Die Redaktion war im obersten Stock. Auf halbem Weg bemerkte ich, dass bei Clarissa etwas nicht stimmte.
    »Du hast ja noch die Sachen von gestern an.«
    Sie grinste. »Das hättest du auch, wenn du den Mann von gestern getroffen hättest.«
    »Oh, Clarissa, was soll ich nur mit dir machen?«
    »Gehaltserhöhung, starker Kaffee, Paracetamol.«
    Strahlend zählte sie die einzelnen Punkte an den Fingern ab. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass Clarissa manche der

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