Little Bee
wohin wir wollten. Wir gingen aber nicht einfach los. Wir mussten abwarten, bis alle im Dorf schliefen. Es dauerte länger als gewöhnlich, weil Vollmond war, und er schien so hell, dass er auf den Blechdächern schimmerte und in der Wasserschale funkelte, die ich und meine Schwester in unserem Zimmer hatten, um uns das Gesicht zu waschen. Der Mond machte die Hunde und die alten Leute ruhelos, und es wurde noch stundenlang gebellt und gemurmelt, bevor sich endlich Stille über die Häuser senkte.
Ich und Nkiruka schauten durchs Fenster, bis der Mond außergewöhnlich groß wurde, so groß, dass er den ganzen Fensterrahmen füllte. Wir konnten das Gesicht des Mannes im Mond sehen und den Wahnsinn in seinen Augen, so nah war er. Der Mond ließ alles so hell leuchten, als wäre es Tag, und zwar kein gewöhnlicher, sondern ein verblüffender Tag, ein Zusatztag, wie der sechste Zeh einer Katze oder eine geheime Botschaft, die man zwischen den Seiten eines Buches entdeckt, das man schon oft gelesen und in dem man nie etwas gefunden hat. Der Mond schien auf den Limba-Baum und schimmerte auf dem alten, kaputten Peugeot und funkelte auf dem Geist des Mercedes. Alles erglühte in dieser blassen, dunklen Helligkeit. Da gingen Nkiruka und ich hinaus in die Nacht.
Die Tiere und Vögel betrugen sich seltsam. Die Affen heulten nicht, und die Vögel waren still. Wir gingen durch eine solche Stille, dass es mir vorkam, als neigten sich die kleinen silbernen Wolken, die über das Angesicht des Mondes glitten, zur Erde herunter und machten Pssst. Ich sah die Angst und Aufregung in Nkirukas Augen. Wir hielten uns an den Händen und gingen eine Meile durch die Cassavafelder bis dort, wo der Dschungel begann. Die Wege aus roter Erde schimmerten zwischen den Cassavareihen im Mondlicht wie die Rippen von Riesen. Als wir den Dschungel erreichten, war er still und dunkel.
Wir sprachen nicht miteinander, sondern gingen hinein, bevor unsere Angst zu groß wurde. Wir gingen lange, und der Weg wurde schmaler, und das Laub und die Äste schlossen sich enger und enger um uns, bis wir hintereinander gehen mussten. Die Äste versperrten uns den Weg, so dass wir uns ducken mussten. Bald kamen wir gar nicht mehr weiter. Da sagte Nkiruka: Das ist nicht der richtige Weg, wir müssen umkehren, und wir kehrten um. Doch da wurde uns klar, dass dies gar kein Weg war, denn die Äste und Pflanzen waren immer noch dicht um uns herum. Wir gingen ein kleines Stück weiter, wanden uns zwischen ihnen hindurch, doch schon bald begriffen wir, dass wir den Weg verfehlt und uns verirrt hatten.
Im Dschungel war es so dunkel, dass wir nicht mal unsere eigenen Hände sehen konnten, und wir hielten uns aneinander fest, damit wir einander nicht verloren. Um uns herum hörten wir die Geräusche der Dschungeltiere im Unterholz, und es waren natürlich kleine Tiere, nur Ratten und Spitzmäuse und Dschungelschweine, aber in der Dunkelheit erschienen sie uns riesig, so groß wie unsere Angst, und sie wuchsen noch mit ihr. Uns war nicht danach, so zu tun, als hätten wir einen Kühlschrank oder eine Waschmaschine. Dies schien nicht die Nacht zu sein, in der uns solche Geräte helfen konnten.
Ich begann zu weinen, weil die Dunkelheit undurchdringlich war und ich nicht glaubte, dass sie jemals enden würde.
Doch Nkiruka hielt mich ganz fest und wiegte mich und flüsterte, Sei nicht traurig, kleine Schwester. Wie ist mein Name? Und ich sagte durch mein Schluchzen hindurch, Dein Name ist Nkiruka. Und meine Schwester rieb mir den Kopf und sagte, Das stimmt. Mein Name bedeutet »Die Zukunft ist hell«. Verstehst du? Hätten unsere Mutter und unser Vater mir diesen Namen gegeben, wenn es nicht stimmte? Solange du bei mir bist, kleine Schwester, wird die Dunkelheit nicht ewig dauern. Da hörte ich auf zu weinen und schlief mit dem Kopf an ihrer Schulter ein.
Ich erwachte vor Nkiruka. Mir war kalt, und es dämmerte. Die Dschungelvögel erwachten, und um uns schien ein blasses Licht, ein dünnes, graugrünes Licht. Überall wuchsen niedrige Farne und Schlingpflanzen, und von den Blättern tropfte der Tau. Ich stand auf und machte ein paar Schritte, weil das Licht in dieser Richtung heller schien. Ich schob einen niedrigen Ast beiseite, und da sah ich ihn. Im Unterholz stand ein ganz alter Jeep. Die Reifen hatten sich völlig zersetzt, und Schlingpflanzen und Farne wucherten in den Radkästen. Die schwarzen Plastiksitze waren zerfetzt und von kurzen, rostigen Sprungfedern durchbohrt.
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